Ausgelagert – Bericht aus Choucha

Thursday 07th, February 2013 / 19:28 Written by

 

Warten im Wüstenwind. Kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Trinkbares Wasser ist rar, die Essensrationen wurden zum Teil vor einem viertel Jahr eingestellt. Der Schock über ein tödliches Pogrom sitzt nachwievor tief. So sieht der Alltag im UN-Flüchtlingslager Choucha an der tunesisch-lybischen Grenze aus. Die Verantwortlichen spielen auf Zeit, doch die Flüchtlinge erheben ihre Stimme. Ihren Kampf gegen die Perspektivlosigkeit in der Wüste hat Marvin Lüdemann dokumentiert.      

Im dünn besiedelten Wüstenland der libysch-tunesischen Grenze existiert seit knapp zwei Jahren das Lager Choucha, in dem viele Flüchtlinge aus Libyen – zu einem großen Teil aus sogenannten Drittstaaten südlich der Sahara geflohen – aufgenommen wurden. Das Lager untersteht der Verwaltung des Flüchtlingsprogramms der Vereinten Nationen (UNHCR), die dort nach den organisationseigenen Kriterien Flüchtlinge für ihr Resettlementprogramm auswählt. Migrierende, die diesen Kriterien nicht genügen, werden zurück in die libysche Krise oder ihre Herkunftsländer geschickt – oder sie verbleiben im Lager.

Nach gewaltsamen Übergriffen durch die örtliche Bevölkerung und der anhaltenden Untätigkeit der Verantwortlichen haben die Flüchtlinge ihre Stimme gegen das unerträgliche Warten, die tägliche Schikane und die miserablen Lebensbedingungen im Lager erhoben. Vergangene Woche machten sich einige von ihnen auf den Weg nach Tunis, um vor dem dortigen Büro des UNHCR für eine Klärung ihrer Asylgesuche zu demonstrieren.

Eine Chronik der Misere

Der Libyenkrieg befreite die libysche Gesellschaft von einem tyrannischen Diktator, wackelte temporär an der Stabilität des europäischen Grenzregimes und zerstörte die Lebensgrundlagen von tausenden von Menschen nicht-libyscher Herkunft. Im Libyen Gaddafis nämlich waren Aufenthaltsgenehmigungen frei erwerbbar und für die meisten nach einiger Zeit der papierlosen Arbeit durchaus erschwinglich. Somit konnten sich viele Menschen aus Subsahara-Afrika in Libyen eine Existenz aufbauen, sogar eigene Geschäfte eröffnen und Geld an ihre Familien schicken. Von dem relativen Reichtum Libyens wurde also durchaus über dessen Grenzen hinaus profitiert.

Der alltägliche Rassismus der libyschen Gesellschaft war dazu der krasse Gegenpol. Viele Menschen bewegten die ständige Unsicherheit, willkürliche Verhaftungen, in libyschen Knästen drohende Folter und das Verschwinden Unzähliger in Lagern in den letzten Jahren dazu, von Lybien aus die riskante Reise über das Mittelmeer zu wagen. Wie schon vor der Unterzeichnung der partnerschaftlichen Abkommen zwischen der EU und Libyen 2006 nutzte Gaddafi auch 2011 die klandestine, transmediterrane Migration als Druckmittel gegen die EU und als Antwort auf die NATO-Intervention im Libyenkrieg.

Bomben und Boote

Mit dem Krieg und dem Machtgewinn der selbsternannten Rebellen wuchs die Unsicherheit aller schwarzen Menschen in Libyen. Ein Teil der Rebellen stellte Schwarze unter Generalverdacht, Söldner Gaddafis zu sein. Darüber hinaus herrschte durch Luftangriffe oder willkürliche Gefechte ständige Gefahr. Die Preise für die Überfahrt nach Europa hingegen waren trotz der hohen Nachfrage auf einem sehr niedrigen Stand. Dies lag maßgeblich daran, dass zumindest die Abfahrt nicht geheim vonstattengehen musste, weil sie in ebendieser Phase von Gaddafi politisch gewollt war. Die libysche Küstenwache blieb tatenlos.

Warten in der Wüste © Mohamed Ali Mhenni

Warten in der Wüste © Mohamed Ali Mhenni

Somit wurde die durch Verträge mit Anrainerstaaten und die hohe Präsenz von Frontex und nationalen Küstenwachen erlangte relative Stabilität des euromediterranen Grenzregimes im Frühling 2011 ins Wanken gebracht. Neben den vor dem Krieg über das Mittelmeer Fliehenden, die von Gaddafi instrumentalisiert wurden, legten auch im benachbarten Tunesien wieder Tausende von Menschen ab, die den revolutionären Moment der polizeilichen Instabilität für sich nutzten und gen Italien reisten. Die hegemonialen europäischen Diskurse reagierten mit der üblichen rassistischen Rhetorik und konstruierten sich zu einem Opfer einer Flüchtlingswelle, die – zumindest diskursiv – naturkatastrophale Ausmaße anzunehmen schien. Bestärkt wurde diese Rhetorik durch den Tabubruch Frankreichs, die Schengener Freizügigkeit in Frage zu stellen und – zumindest temporär – wieder Grenzkontrollen einzuführen.

Wüstenlager als Externalisierungserfolg der EU

Vor diesem Hintergrund scheint es für die EU ein wahrer Glücksfall gewesen zu sein, dass sich das post-revolutionäre Tunesien schnell stabilisierte, zahlreiche Menschen dort hin flohen und das europäische Grenzregime so nicht auf einem direkten Weg herausforderten. Auf tunesischer Seite, nur wenige Kilometer von der libyschen Grenze entfernt, errichtete der UNHCR das Flüchtlingslager Choucha in einer tunesischen Militärbasis. Neben Choucha existierten im Grenzbereich noch zwei Lager und weitere im Landesinneren. In Choucha bot der UNHCR seit März 2011 Schutz und die Möglichkeit im Refugee Status Determination (RSD)-Verfahren am Resettlement-Programm teilzunehmen.

Bis dahin gilt es jedoch in der Wüste in Zelten zu verharren, wozu die verbliebenen 3400 Menschen nun seit über einem Jahr gezwungen sind. Fernab von der staubigen Realität in der Wüste wird diese UNHCR-Intervention trotz ihrer hohen Kosten als Glücksfall für die EU gelten. So waren in den 17 Monaten des Bestehens des Flüchtlingslagers etwa 200.000 Menschen dort. Die meisten von ihnen wurden entweder mit der IOM (Internationale Organisation für Migration) zurück in ihr Herkunftsland geschickt, sind schon per Resettlement ausgereist, warten auf ihr Resettlement oder wurden abgelehnt und sind ohne Perspektive. Immerhin jedoch sind kaum welche von ihnen in die Boote nach Italien gestiegen, die zu Hochzeiten der Libyenkrise beinahe täglich ablegten. Damit ist das Lager Choucha ein unschätzbarer Auslagerungserfolg der EU.

Pogrom im Flüchtlingslager

Im Mai 2011 gingen die Geflüchteten in Choucha das erste Mal auf die Straße, um für Perspektiven und Resettlement-Plätze zu kämpfen. Sie blockierten die Straße vor dem Lager, eine Lebensader der Lokalbevölkerung, die hauptsächlich von dem (durch den Libyenkrieg schon erheblich geschwächten) Grenzhandel lebt. Aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger des benachbarten Ortes Ben Gardane reagierten darauf mit einem Angriff auf die Demonstrierenden, bei dem sich das tunesische Militär auf die Seite der Angreifenden stellte und in die Menge schoss. Im folgenden Verlauf wurden zwei Drittel des Lagers geplündert und niedergebrannt. Schwere Vorwürfe erheben die Bewohnende des Lagers auch gegen das Militär, das willkürlich Menschen angeschossen und vermeintliche Führungspersönlichkeiten des Streiks gefoltert haben soll.

Während des Pogroms durch die Lokalbevölkerung sind laut Angaben der Geflüchteten mindestens 20 Menschen entweder verbrannt oder auf anderem Wege getötet worden. Dem UNHCR zufolge gab es sechs Todesopfer – vier Menschen aus Eritrea starben im Feuer, zwei weitere durch einen umstürzenden Strommast. Es gab keinerlei öffentliche Stellungnahmen des UNHCR zu den Vorkommnissen in dem von ihnen bereitgestellten Lager. Es gab keine kritische Aufarbeitung der Geschehnisse, weder mit Blick auf das Militär, noch bezogen auf die Lokalbevölkerung. Auch eine psychologische Unterstützung der teilweise traumatisierten Menschen in Choucha blieb vollkommen aus.

Eindrücke aus Choucha unmittelbar nach dem Pogrom


Stattdessen müssen Geflüchtete, die immer noch in Choucha leben, damit umgehen, dass sie Soldaten begegnen, die vor Monaten noch auf sie schossen. Auf die Lokalbevölkerung ist der UNHCR insoweit eingegangen, als dass er vielen Menschen ermöglichte, im Lager zu arbeiten. Letzteres entpuppte sich aus Sicht des UNHCR als großer Fehler. So fanden sich die Menschen, deren befristete Arbeitsverträge nach einiger Zeit ausliefen – eben auch aus dem Grund, dass das Lager von 20 000 auf unter 4000 Personen geschrumpft ist – Anfang dieses Jahres auf der Straße wieder, wo sie mit Blockadeaktionen und gezielten Angriffen auf UNHCR- und IOM-Fahrzeuge für ihren Joberhalt kämpften. Die Kämpfe der tunesischen Arbeiterinnen und Arbeiter führten dazu, dass die Lagerinfrastruktur zeitweise lahmgelegt war und das UNHCR-Personal über Wochen nicht ins Lager kam. Den Streikenden gelang damit ein beachtlicher medialer Erfolg, von dem auch einige Geflüchtete, die in Choucha leben, mitbekamen. In dem Diskurs um die Situation der tunesischen Angestellten in dem Flüchtlingslager vermissten sie die Perspektive derer, die im Lager leben müssen. Also besuchten sie Mitte März 2012 eine Pressekonferenz der Arbeiterinnen und Arbeiter beim Forum Tunisienne pour les droits sociaux et economiques2 in Tunis und machten ihre Perspektive hörbar. Nicht nur die Medien, sondern auch die tunesischen Aktivistinnen und Aktivisten konnten damit direkt angesprochen werden. Ein Vernetzungsprozess kam in Gange, der die Stimme der Geflüchteten aus der Isolation im Wüstenlager in die Hauptstadt trug.

„Voice of Choucha“

Die Geflüchteten in Choucha erheben schwere Vorwürfe gegen den UNHCR. So sei das Verfahren des RSD nicht korrekt verlaufen und von Fehlern durchzogen. Da ist die Rede von parteiischen Übersetzenden, ebenfalls Geflüchteten, die einer verfeindeten Konfliktpartei angehören, ebenso von Besuchen und Konfrontationen mit Botschaftsangestellten – also Beamtinnen und Beamten von Staaten, vor denen die Geflüchteten Schutz suchen – noch bevor deren Fälle überhaupt abgeschlossen waren. Andere erheben den Vorwurf, dass sie monatelang an der tunesisch-libyschen Grenze festgehalten wurden und der nur fünf Kilometer entfernte UNHCR sich nicht für sie einsetzte. Stattdessen bekamen sie, als sie doch im Lager landeten, zu hören, dass es für „zu spät Gekommene“ keine Resettlement-Plätze mehr gäbe.

All diese Kritik der Geflüchteten in Choucha verbalisiert sich nun in dem Projekt Voice of Choucha (VOC), das von einigen Unzufriedenen angestoßen wurde, die ihrer perspektivlosen Situation in dem Wüstenlager ein Ende setzen wollen. Die Aktiven von Voice of Choucha sind seit der gesprengten Pressekonferenz in direktem Kontakt mit interessierten Akteuren der tunesischen Zivilgesellschaft, sowie europäischen Aktiven, die gemeinsam mit ihren Partnerinnen und Partnern in Tunesien diesen Sommer das Projekt Boats for People auf die Beine stellten, welches die europäische Migrationspolitik, die das Mittelmeer zum Massengrab für Migrierende macht, in den Fokus der Kritik nimmt.

Mit dieser Vernetzung und dem Gewinn an Selbstbewusstsein können die VOC-Aktiven dem UNHCR nun als politischer Akteur gegenüber treten. Legitimiert sind sie durch ein großes Plenum, zu dem alle vom UNHCR abgelehnten Communities – knapp 400 Personen – Delegierte schicken. Am 14. Mai 2012 organisierten sie die erste Demonstration in Choucha seit der Blockade im Vorjahr, auf die das Pogrom folgte. Die Menschen gingen mit der Forderung nach zügigem Resettlement für alle in Choucha Verweilenden auf die Straße und forderten die Selektionslogik des UNHCR heraus.

Auf Gesprächsangebote des UNHCR reagierten die Demonstrierenden ablehnend mit der Begründung, dass sie seit über einem Jahr im Gespräch seien, die Verantwortlichen des UNHCR ihnen jedoch nicht zuhören würden und sie nichts zu verlieren hätten, weswegen sie auch keine Angst vor Repressionsandrohungen durch das Militär hätten. Die Demonstration hatte reine Symbolkraft, die aber dazu in der Lage war, dem UNHCR vor Augen zu führen, dass sich die Geflüchteten, vor allem die Abgelehnten, organisieren und in der Lage sind, sich aufzulehnen und dem UNHCR ihre Kritik unmissverständlich aufzuzeigen. Seitdem im Oktober vergangenen Jahres die Lebensmittelausgabe an abgelehnte Asylsuchende eingestellt wurde, kündigten VOC-Aktive eine Intensivierung des Protests im Herbst und Winter an.

Selektionslogik im Flüchtlingsschutzdiskurs

Der vom UNHCR dominierte Flüchtlingsschutzdiskurs, in dem die Kategorien „schützenswerter Flüchtling“ und „illegaler Migrant“ produziert werden, ist in Choucha eine schmerzhafte Realität. Nachdem der UNHCR viele Menschen abgelehnt hat, da sie keine Fluchtgründe nach der Genfer Flüchtlingskonvention hätten, sind die meisten von ihnen ausgereist, meist mit dem Repatriierungsangebot von IOM zurück in ihr Herkunftsland.

Etwa 400 vom UNHCR Abgelehnte verweilen jedoch im Camp und kämpfen für die Neuaufnahme ihrer Fälle und ihre Befreiung aus der Perspektivlosigkeit. Denn der Flüchtlingsstatus ist die einzige Möglichkeit, nicht illegalisiert zu migrieren. Bisher weigert sich der UNHCR, ihre Fälle neu aufzunehmen und verweist darauf, dass sich die Abgelehnten nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich befänden, sie nun illegal in Tunesien seien und die tunesische Regierung entscheiden müsse, was mit ihnen geschehen soll. Oftmals wurde vom UNHCR drohend hinzugefügt, dass bevor das tunesische Militär die Menschen in Abschiebehaft nimmt, sie doch die Angebote der IOM wahrnehmen sollten, oder freiwillig zurück nach Libyen reisen sollten, obwohl selbst UNHCR-Angestellte auf Nachfrage nicht abstritten, dass Libyen immer noch unsicher und gerade für Schwarze gefährlich ist. Einige Geflüchtete erzählten uns, dass sie Freundinnen und Freunde hätten, die zurück nach Libyen gegangen seien. Zu niemandem von ihnen sei es möglich gewesen, den Kontakt zu halten, die meisten seien entweder in libyschen Gefängnissen verschollen oder tot.

Wege aus der Perspektivlosigkeit

Für die verweilenden Abgelehnten sind also weder die Rückreise nach Libyen noch die Rückreise ins Herkunftsland eine Option. Doch auch die tunesische Regierung signalisierte jüngst, dass sie keinerlei Kapazitäten und Ambitionen hätte, die Verantwortung für die Abgelehnten zu übernehmen.

Gleichzeitig wird ihnen aber auch die Reisefreiheit innerhalb Tunesiens verwehrt, weswegen die Geflüchteten zum Warten in der Wüste gezwungen sind, was viele von ihnen nicht akzeptieren und darum selbstbestimmt nach Alternativen suchen. So haben VOC-Aktive Berichte über ihre Situation verfasst und diese in Aktivistinnen-Kreisen der tunesischen Hauptstadt verbreitet, sind direkt auf europäische Botschaften zugegangen, um ihnen von ihrer Perspektivlosigkeit, die nicht zuletzt durch das NATO-Bombardement im Libyenkrieg verursacht wurde, zu berichten und nach Aufnahmeoptionen zu fragen.

Eine konkrete Lösung für die abgelehnten Flüchtlinge in Choucha ist bisher nicht in Sicht, eine Maßnahme, die sie unterstützen könnte, wäre die Ausweitung des Resettlement-Programms. Denn selbst wenn die Aktivistinnen und Aktivisten hinter Voice of Choucha eine Neuaufnahme ihrer Fälle durchsetzen können, stünden keine weiteren Resettlement-Plätze zur Verfügung. Deutschland hat sich lediglich verpflichtet, 200 Menschen aus Choucha aufzunehmen. Sie kamen bereits im September vergangenen Jahres in Niedersachsen an.

Über den Autor

Marvin Lüdemann verbrachte einige Monate in Tunesien, knüpfte Kontakte zu den widerständigen Geflüchteten aus Choucha und verfolgt ihre Kämpfe seitdem solidarisch. Diesen Bericht veröffentlichte er zunächst im Hinterland Magazin.

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