Ein Bündel von Fragen: Offener Brief von Hamed Abdel-Samad an Mursi
Der Politologe und Schriftsteller Hamed Abdel-Samad richtet sich in einem offenen Brief an Ägyptens Präsident Mursi. Vor dessen Deutschlandbesuch schreibt Abdel-Samad: “Sie sind demokratisch gewählt worden, aber ein Demokrat sind Sie noch lange nicht”.
Lieber Herr Mursi,
als ein Ägypter, der seit 17 Jahren in Deutschland lebt, hätte ich mir gewünscht, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten meines Heimatlandes mit einem Blumenstrauß in Berlin zu empfangen.
Stattdessen sehe ich mich dazu verpflichtet, Sie während Ihres Deutschlandbesuchs mit einem Bündel von Fragen zu konfrontieren.
Fragen, die nicht nur ich stelle, sondern Millionen von jungen Ägyptern, die von Ihnen enttäuscht sind und sich um ihre Revolution betrogen fühlen. Fragen, die sich auch Frau Merkel stellen sollte, bevor sie Sie als “verlässlichen” Partner der Bundesrepublik und als Garant für “Frieden und Stabilität” im Nahen Osten bezeichnen wird.
Zwar sind Sie demokratisch gewählt worden, Herr Mursi, aber ein Demokrat sind Sie noch lange nicht. Sie sind legal an die Macht gekommen, aber legitim ist Ihre Macht noch nicht. Denn rund 52 Prozent der ägyptischen Wähler haben für Sie gestimmt, weil Sie versprachen, ein Präsident aller Ägypter zu werden und eine Verfassung zu verabschieden, durch die alle Menschen im Lande sich repräsentiert fühlen. Sie versprachen ebenfalls, die Ziele der Revolution – Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde – zum Leitfaden Ihrer Politik zu machen. Doch schon kurz nach Ihrer Wahl wurde vielen klar, dass Sie nur ein schlechtes Plagiat von Mubarak sind. Ihre Muslimbrüder haben die Verfassungskommission entführt und in einer Nacht- und Nebelaktion eine Verfassung verabschiedet, die die liberalen Kräfte sowie die Frauen und Kopten marginalisiert. Eine Verfassung, die die Macht des Präsidenten ausbaut, als hätten Sie nicht vor, dass jemals ein anderer Präsident das Land regieren wird. Die gesellschaftliche Debatte über die neue Verfassung haben Sie im Keim erstickt. Den umstrittenen Entwurf haben Sie sofort unterschrieben und den Wählern zur Abstimmung in einem Referendum gestellt.
Wer die Pläne der Islamisten in Frage stellte, war ein ungläubiger Verräter
Dabei haben Sie die heftigen Proteste gegen diese Verfassung ignoriert.
Sie haben zugelassen, dass Ihre Anhänger das Verfassungsgericht belagerten, damit es kein Urteil gegen die neue Verfassung fällt. Sie haben zugesehen, wie bewaffnete islamistische Milizen friedliche Demonstranten vor Ihrem Palast angegriffen haben.
Die Abstimmung über die Verfassung verwandelten Ihre Anhänger in eine Entscheidung über Himmel und Hölle. Wer auf Ihrer Seite war, war ein guter Muslim. Wer die Pläne der Islamisten in Frage stellte, war ein ungläubiger Verräter. Und so haben Sie das Land tief gespalten in einer Zeit, wo Sie die Rolle des Versöhners hätten spielen müssen.
Verraten Sie mir, Herr Präsident: Welche magische Kraft steckt in Ihrem Thron, welche seltsamen Düfte werden im Präsidentenpalast versprüht, dass Sie sich binnen kurzer Zeit wie Ihr Vorgänger Mubarak benehmen? Sie schauen auf die Opposition herab und bezeichnen Ihre Gegner als Verräter. Sie glauben nur Berichten, die Ihre Vertrauten verfassen, und tanzen nach der Pfeife der Muslimbrüder und Salafisten. Die wichtigsten Posten übertragen Sie nicht an Experten, die die Kompetenzen besitzen, sondern an Menschen, die Ihnen loyal sind. Auch benutzen Sie in Ihren Reden die gleichen leeren Floskeln wie Mubarak über Wachstum, nationale Sicherheit und die inländische und ausländische Verschwörung, die darauf abzielt, Ägypten zu destabilisieren.
Warum sind Sie so dünnhäutig, warum verkraften Sie keine Kritik, Herr Mursi?
Wie die Partei von Mubarak versuchen Ihre Muslimbrüder, die Kontrolle über alle Institutionen des Landes in rasantem Tempo zu erlangen. Kommunen und Gewerkschaften werden unterwandert, unabhängige Richter werden beseitigt, kritische Medien werden eingeschüchtert, während die Staatsmedien, wie zu Mubaraks Zeiten, Propagandaapparate des Präsidenten und seiner Gefolgschaft werden.
In einem Punkt haben Sie Mubarak sogar überholt: Die Anzahl der Journalisten, die seit Ihrer Amtseinführung juristisch verfolgt werden, ist laut Angaben des Arab Network for Human Rights Information höher als in den 30 Jahren Mubarak-Herrschaft. Allein wegen Beleidigung des Präsidenten wird derzeit gegen 24 Journalisten in Ägypten ermittelt.
Warum sind Sie eigentlich so dünnhäutig? Warum verkraften Sie Kritik an Ihrer Politik nicht? Und wie kann es nach dieser großartigen Revolution eine Anschuldigung namens “Beleidigung des Präsidenten” geben? Haben Sie vergessen, dass Sie heute nicht Präsident Ägyptens wären, wenn die Jugend der Revolution Ihren Vorgänger nicht beleidigt hätte? Journalisten werden unter Ihrer Herrschaft nicht nur vor Gericht gestellt, sondern auch gezielt liquidiert. Ein Schicksal liegt mir besonders am Herzen. Unser Kollege Al-Husseini Abu Deif wurde am 5. Dezember 2012 vor Ihrem Palast von bewaffneten Islamisten umgebracht.
Er wurde von jenen Milizen getötet, die Sie zu Ihrem Palast einluden, um Sie vor den wütenden Demonstranten zu schützen. Herr Präsident, wer hat Al-Husseini getötet? Und warum beschäftigt sich Ihre Justiz mit der Verfolgung von kritischen Journalisten, statt sich um die Mörder von Abu Deif zu kümmern? Nun herrscht dank Ihrer Politik Chaos auf den Straßen Ägyptens.
Ägypten braucht starke Institutionen, Transparenz, Öffnung
Touristen bleiben dem Land fern, inländische und ausländische Investoren ergreifen die Flucht. Das ägyptische Pfund verliert täglich an Wert, und die Kreditwürdigkeit des Landes wird auf das Niveau von Griechenland herabgestuft. All das, weil die Sicherheit im Land und eine berechenbare Politik fehlen.
Ägypten kann sich, anders als Iran oder Saudi-Arabien, den Islamismus nicht leisten. Die Hungrigen können sich nicht von der Scharia ernähren, und die Jugend, die die Angst überwunden hat, lässt keine neue Diktatur zu. Auch die Salafisten und Dschihadisten, die Sie nun unterstützen, werden sich bald gegen Sie wenden. Wenn diese religiösen Eiferer merken, dass Sie nur ein politischer Opportunist sind und dass es Ihnen nicht um Gott, sondern um Macht geht, werden sie sich gegen Sie wenden. Sie werden Sie für ungläubig erklären und die gleichen Waffen gegen Sie wenden, die sie nun gegen die Liberalen richten, und Ihnen den Dschihad erklären.
Obwohl ich ein vehementer Gegner Ihrer Politik bin, wünsche ich mir nicht, dass Sie scheitern, denn dies würde auch das Scheitern Ägyptens bedeuten. Ich wünsche mir nur, dass Sie Ihre überhebliche Haltung aufgeben und im Interesse Ägyptens handeln und nicht im Interesse der Muslimbrüder.
Ich habe Ägypten vor 17 Jahren verlassen, weil ich dort nicht frei leben konnte. Ich habe an der Revolution vor zwei Jahren teilgenommen, weil ich mir ein neues Ägypten wünsche. Nun sehe ich, dass wir eine Form der Bevormundung gegen eine andere ausgetauscht haben. Ich weiß, dass Sie mit Mubarak als Vorgänger ein schweres Erbe angetreten haben, aber dieses Erbe kann nicht als ewige Ausrede für das Scheitern Ihrer Regierung dienen. Außerdem kann man das Erbe von Mubarak nicht mit den Methoden von Mubarak beseitigen. Ägypten braucht seine Frauen und seine Kopten genauso, wie es seine gläubigen Muslime braucht. Ägypten braucht Politiker, die sich mit Wirtschaft, Innen- und Außenpolitik auskennen, keine Experten in Sachen Gebet und Koran-Exegese.
Ägypten braucht starke Institutionen, Transparenz und eine selbstbewusste, aufrichtige Öffnung.
Liebe Frau Merkel, Mursi wird Sie nicht umarmen
Apropos aufrichtig: Wie stehen Sie heute eigentlich zu den Juden? Sie erinnern sich bestimmt, dass Sie vor einigen Jahren die Israelis als Blutsauger und Nachkommen von Affen und Schweinen bezeichnet haben. Sie haben gefordert, dass die Ägypter ihre Kinder und Kindeskinder nicht nur zum Hass gegen Juden und Zionisten erziehen sollten, sondern auch zum Hass gegen deren vermeintlichen Unterstützer, wie etwa Amerika, Frankreich und ganz Europa. Haben Sie den Anstand, sich vor Frau Merkel und der deutschen Öffentlichkeit für Ihre unsäglichen Äußerungen zu entschuldigen, bevor Sie einen Schuldenerlass und Entwicklungshilfe fordern? Noch wichtiger: Können sie sich vor der ägyptischen Öffentlichkeit davon distanzieren? Würden Sie diese Erziehung zum Hass aus dem ägyptischen Bildungssystem endlich entfernen? Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, eine neue Bildungspolitik einzuführen, die nicht auf Selbstverherrlichung und Dämonisierung der Anderen basiert, sondern auf Respekt, freiem Denken und der Fähigkeit zur Selbstkritik? Die mit Konflikten auf einer sachlichen, nicht auf einer emotionalen Ebene umgeht?
Den letzten Teil meines Briefes möchte ich an die Bundeskanzlerin richten, die Sie in Berlin empfängt.
Liebe Frau Merkel, ich weiß, dass Sie Herrn Mursi nicht umarmen werden, wie Sie Mubarak umarmt haben. Ihre Berater haben Sie bestimmt darüber informiert, dass die Muslimbrüder sich nicht von Frauen öffentlich umarmen lassen. Sie werden ihm aber bestimmt die Hand reichen, und er wird sie nicht – wie viele Islamisten – zurückweisen, denn er braucht Sie. Er wird mit Ihnen über Schuldenerlass, über finanzielle Unterstützung und über deutsche Investitionen in Ägypten reden. All das braucht das Land am Nil dringend. Seien Sie aber nicht voreilig, Frau Merkel, und knüpfen Sie bitte diese Hilfe an die demokratische Entwicklung des Landes. Nicht nur die Einhaltung von demokratischen Wahlen sollte das Kriterium dafür sein, sondern auch die Achtung der Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten und Transparenz bei den Wahlen. Und verlangen Sie bitte Garantien für die Versprechen von Herrn Mursi, denn nichts kann er besser, als leere Versprechen zu geben. Ägypten braucht und verdient Ihre Zuwendung, Frau Merkel, aber es braucht und verdient auch eine berechenbare politische Führung, die im Sinne aller Ägypter handelt und die Hauptforderungen der Revolution nicht ignoriert.