Fremd meint anders und anders muss nicht schlecht sein
Ob nun als FreiwilligeR im Ausland oder als MigrantIn im Aufnahmeland – das Gefühl, „fremd“ zu sein, wird in vielen Lebenssituationen offensichtlich. Bislang wurde das Konzept der Fremdheit vornehmlich in der Soziologie untersucht, nicht aber für die Mehrheitsgesellschaft zugänglich gemacht. Es ist an der Zeit, die bestehenden Zugänge in die nichtakademische Öffentlichkeit zu befördern und damit Verständnis für die Menschen zu erzeugen, die als „fremd“ konzeptualisiert werden.
Deutschland ist seit Jahrhunderten ein Einwanderungsland. Menschen verschiedener Nationalitäten, biographischer Hintergründe und Religionen leben zusammen auf einem Staatsgebiet und erzeugen eine Vielfalt unterschiedlichster Identitäten. Dennoch ist Fremdenfeindlichkeit auch außerhalb des rechtsextremen Spektrums weit verbreitet, wie wissenschaftliche Studien mehrfach belegen. Als „fremd“ wahrgenommen werden vor allem Menschen mit tatsächlichem oder angenommenem Migrationshintergrund, denen eine andere „Kultur“ zugewiesen wird; was auch immer mit „Kultur“ gemeint ist.
Doch was heißt es „fremd“ zu sein? Insbesondere Soziologen haben diese Frage aufgegriffen und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Fremdheit ist demnach, in diesem Punkt überschneiden sich die Definitionen, in erster Linie ein sozialer Konstruktionsprozess, der mehr über die Person aussagt, die den Zuschreibungsprozess vorgenommen hat, als über die Person, die als „fremd“ stigmatisiert wird. Diese Kategorisierung findet auf Grundlage einer vertrauten Ordnung statt; sie ist der Referenzpunkt für die Zuschreibung. Demzufolge kann „Fremdheit“ nicht an objektiven Kriterien gemessen werden. Sie ist vielmehr das Produkt sozialer Aushandlungsprozesse, welches an einen bestimmten Kontext gebunden ist. Fremdheit als solche existiert insofern nicht; sie muss stets in Bezug zu einem Maßstab gesetzt werden, der vorgibt, wann etwas als „fremd“ deklariert wird und wann nicht.
Das bedeutet auch, dass die Grenzen zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ fließend sind. Was in der einen Gesellschaft als „normal“ angesehen wird, gilt in der nächsten als unmoralisch und in der dritten als vornehm. Fremdheit ist demnach etwas Subjektives.
Fremdheit als Zusammenprall kulturspezifischer Wissenssysteme
Der deutsche Soziologe Alfred Schütz differenziert und konkretisiert diese Aussagen aus einer wissenssoziologischen Perspektive. Ihm zufolge sind es vor allem die Erfahrungen der Unvertrautheit, der Unwissenheit und der dadurch bedingten Unsicherheit, die „Fremdheit“ ausmachen. Fremd ist „derjenige, der aus der Sicht eines bestimmten Kulturkreises nicht dazugehört und damit nicht weiß, welche Bedeutung und Konsequenzen sein Handeln hat“, schreibt Schütz in seinem 1944 verfassten Aufsatz „Der Fremde“. „Fremd“ ist demnach jemand, der über einen anderen Wissensschatz verfügt als jenen, der in der Aufnahmegesellschaft üblich ist. Das bisherige Wissen des „Fremden“ erscheint in der neuen Umgebung unbrauchbar und irrelevant, es verliert seine Gültigkeit.
Insofern stellt Fremdheit einen Erfahrungshorizont außerhalb des eigenen Wirklichkeits- und Wissensbereiches dar. Menschen verfügen über unterschiedliches „zur Normalität gewordenes“ Wissen, sie haben unterschiedliche Relevanzsysteme und Wissensvorräte. Durch verschiedene Gesellschaftssysteme sozialisiert und geprägt sind die Sinnhorizonte, in denen sich Menschen bewegen, derart voneinander different, dass sie keine Orientierung bieten, sobald sich Menschen außerhalb des eigenen Einflussgebietes bewegen. Gegenseitiges Verstehen wird dann zur Herausforderung.
Das „Denken-wie-üblich“ stößt an seine Grenzen
Dies hat nicht nur Konsequenzen auf Seiten des als „fremd“ Konzipierten, sondern auch auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft: Bislang unhinterfragte Wissensordnungen werden angezweifelt und einer kritischen Prüfung unterzogen. Denn wer neu in eine Gesellschaft kommt, hat in der Regel einen objektiveren Blick als jemand, der schon seit jeher in der betreffenden Gesellschaft lebt. Dadurch werden „sicher“ geglaubte Gewissheiten in Frage gestellt und Selbstverständlichkeiten neu sortiert. Dies führt zu Verunsicherung, die sich in der Folge nicht selten in fremdenfeindlichen Einstellungen oder gar Verhaltensweisen äußert.
Während der US-amerikanische Soziologe George Herbert Mead Fremdheit als Übergangsphänomen beschrieb, sah Schütz dies weitaus pessimistischer, indem er jede Möglichkeit des „Fremden“, jemals vollkommener Teil der Gruppe zu werden, negierte. Es sei schlichtweg unmöglich, alle „impliziten Codes“ zu verstehen, auch wenn man eine „gemeinsame Sprache“ spreche. Ein Dilemma ohne Ausweg also? Schütz sprach in diesem Fall von einem jahrelangen Assimilationsprozess, den es bedürfe, um das eigene Relevanzsystem völlig neu zu organisieren. Nach und nach würde der „Fremde“ sich das Neue erschließen, dazu lernen, sich akkulturieren. Aber ist es überhaupt wünschenswert, in allen Fällen „gleich“ zu sein? Kann ein Nebeneinander verschiedener Ordnungssysteme nicht auch aufregend, interessant und bereichernd sein? Kann man durch ein Nebeneinander nicht auch voneinander lernen?
Was ist „normal“?
Ohnehin liegt dem traditionellen Konzept der Fremdheit eine kulturessentialistische Auffassung der Welt zugrunde, indem es von starren, in sich geschlossenen Gesellschaftstypen ausgeht. Dabei ist die Mehrheitsgesellschaft in sich heterogen; auch hier existieren verschiedene Lebenswelten. Außerdem muss sich Fremdheit nicht zwangsläufig auf voneinander abweichende kulturelle Vorstellungen beziehen. Menschen, die zwar die gleiche Nationalität besitzen, die gleiche Sprache sprechen und in einem Bundesland aufgewachsen sind, können sich ebenso fremd sein. Das klassische Modell der Fremdheit stößt hier an seine Grenzen.
Die alles bestimmende Frage bleibt: Was ist „normal“? Hier wird offensichtlich, dass die Frage nach der Normalität immer auch eine Frage der Macht ist. Zuschreibung erfolgt nicht nur individuell, sondern insbesondere auch kollektiv. Doch auch den als „fremd“ Bezeichneten kommt eine Macht zu, indem sie bewährte Normalitätsvorstellungen irritieren und ihnen neue entgegensetzen. Sie lösen Misstrauen gegenüber Vertrautem aus und durchbrechen Routinen – darin liegt die Stärke unterschiedlicher Weltauslegungssysteme.
Kann Verständnis für Andere nur dann entwickelt werden, wenn man selbst schon einmal in der Position des „Fremden“ war? Bedarf es der eigenen Fremdheitserfahrung, um sich in Personen hineinversetzen zu können, die neu in einer Gesellschaft sind? Möglicherweise erleichtert es den Verstehensprozess. Doch auch die theoretische Annäherung kann fruchtbar sein. Wichtig ist, sich selbst zu verstehen. Sich der Begrenztheit und Relativität der eigenen Deutungs- und Interpretationsmuster bewusst zu sein, einzusehen, dass die eigene Vorstellung der Welt inkohärent, relativ und unvollständig ist, ist Voraussetzung zum Verstehen Anderer. Denn „fremd“ meint „anders“ als bislang bekannt und „anders“ muss nicht zwangsläufig ein „schlechter“ sein.