Libyen: Auslieferung des ehemaligen Geheimdienstchefs an den Internationalen Strafgerichtshof gefordert
Trotz eines internationalen Haftbefehls gegen den ehemaligen libyschen Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi lieferten ihn die mauretanischen Behörden am 5. September an Libyen aus. Dort droht ihm die Todesstrafe. Ungeachtet dessen stellt sich jedoch die Frage, wie der UN-Sicherheitsrat auf den Verstoß Mauretaniens gegen die Resolution 1970/2011 reagiert, die eine Unterstellung der Krise in Libyen unter den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorsieht.
Amnesty International fordert die Auslieferung des ehemaligen Chefs des libyschen Geheimdienstes an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und kritisiert damit dessen Überstellung nach Libyen durch die mauretanischen Behörden. Al-Senussi werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7 Abs. 1 lit. a und h des Statutes des IStGH im Zusammenhang mit den Kämpfen in der Hafenstadt Bengasi im Februar 2011 vorgeworfen. Nach der illegalen Einreise al-Senussis aus Marokko befand er sich seit März 2012 in Nouakchott in Haft. Ungeachtet des internationalen Haftbefehls, den der Internationale Strafgerichtshof am 27. Juni 2011 gegen ihn sowie den inzwischen an den IStGH überstellten al-Islam al-Gaddafi erließ, lieferte Mauretanien ihn nun an Libyen aus.
Verfahren in Libyen: Todesstrafe vorgesehen
Angesichts des desolaten Justizwesens ist nicht abzusehen, dass al-Senussi dort ein fairer Prozess erwartet, zumal das libysche Strafgesetzbuch auch für gewöhnliche Delikte die Todesstrafe vorsieht. Der libysche Ministerpräsident Abd al-Rahim al-Kib erklärte, al-Senussi werde für die Verbrechen des gestürzten Regimes, dessen rechte Hand er gewesen sei, zur Verantwortung gezogen.
Mit der Entscheidung Nouakchotts wird die vom UN-Sicherheitsrat intendierte Befassung des IStGH mit den Folgen der Krise in Nordafrika unterwandert. Dieser hatte in einer einstimmig verabschiedeten Resolution am 26. Februar 2011 (RES/1970 (2011)) die Unterstellung der Krise unter das Internationale Gericht beschlossen.
Verstoß gegen die Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Situation in Libyen
Der Leiter des International Justice Programms von Human Rights Watch Richard Dicker sagte damals: „Der Sicherheitsrat hat angemessen reagiert und Gaddafi und seinen Kommandeuren klar gemacht, dass sie in Den Haag vor Gericht gestellt werden, wenn sie Befehle geben, tolerieren oder befolgen, durch die auf friedliche Demonstranten geschossen werden soll.“
Wenngleich al-Senussi nunmehr in Libyen der Prozess gemacht wird – bei dem die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien freilich fraglich und eine drakonische Strafe zu erwarten ist –, stellt sich nicht nur die Frage nach der Autorität des IStGH, indem das Auslieferungsgesuch Libyens schwerer wog als der internationale Haftbefehl aus Den Haag. Vielmehr bleibt auch abzuwarten, wie der UN-Sicherheitsrat auf den Verstoß Mauretaniens gegen die völkerrechtlich bindende Resolution reagiert. Theoretisch stehen ihm zur Durchsetzung insbesondere repressive Maßnahmen – etwa in Gestalt von UN-Sanktionen oder -Embargo – zur Verfügung. Ob er sich dazu durchringt, bleibt abzuwarten. Konsequent wäre es.
Kooperationen mit CIA und MI6: Human Rights Watch erhebt Foltervorwürfe
Der Fall al-Senussi hat indessen einen pikanten Nebenschauplatz: wie Human Rights Watch jüngst berichtete, ließ die ehemalige US-Regierung unter George W. Bush inhaftierte Gaddafi-Gegner systematisch foltern; auch von Waterboarding ist die Rede. Al-Senussi könnte eine Schlüsselrolle bei Aufklärung der Kooperation des Gaddafi-Regimes mit dem CIA und dem britischen MI6 spielen. Der amerikanische Geheimdienst hatte derartige Foltervorwürfe bislang in nur drei Fällen eingeräumt.