Lobbyistin der Unsichtbaren

Wednesday 07th, November 2012 / 00:28 Written by

 

© humanrightsdoku

Bunt bemalte Regenschirme bieten den Flüchtlingen auf dem Pariser Platz nicht nur Schutz gegen Wind und Wetter, sie tragen auch politische Botschaften und Forderungen des Protests. © humanrightsdoku

Es ist ein merkwürdiger Anblick, der sich den Passanten seit einigen Tagen vor dem Brandenburger Tor bietet. Unter buntbemalten Regenschirmen rekeln sich schwerfällig dick eingepackte Gestalten, auf dem regennassen Pflaster um sie herum kleben Stofftransparente mit Aufschriften wie „Kein Mensch ist illegal“. Daneben posieren Touristen mit den üblichen Fotomodellen in Sowjetuniform oder im Pelz des Berliner Bären. Obwohl der Wind an diesem grauen Novemberdienstag bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt eisig schneidet, geht Sanne Luca mit einem warmen Lächeln auf die Schaulustigen zu: „Einen wunderschönen guten Tag, darf ich Ihnen das Fragezeichen aus dem Gesicht zaubern und kurz erzählen, was hier vor sich geht?“

Eigentlich passt Sannes freundlicher Ton nicht so recht zu dem ernsten Anliegen des Protests, dessen Botschaft die Politikstudentin in mal kurzen, abrupt abgebrochenen, mal ausgiebig diskussionsfreudigen Gesprächen unter die Leute bringt. Seit Samstag harrt eine Gruppe von Flüchtlingen auf dem Pariser Platz aus, fünfzehn von ihnen befinden sich seitdem im Hungerstreik. Den Flüchtlingen und ihren Unterstützern geht es um eine grundlegende Reformierung der deutschen Asylpolitik.

Mit ihrem Anfang Oktober begonnenen Marsch aus Würzburg nach Berlin haben sich die Flüchtlinge bewusst über die Residenzpflicht hinweggesetzt. Da die meisten Passanten beim Stichwort Residenzpflicht bloß ahnungslos mit den Achseln zucken, beginnt Sanne mit dem kleinen Einmaleins der Asylpolitik: „Flüchtlinge werden einem bestimmten Heim zugeordnet. Die Residenzpflicht bindet sie an den zugehörigen Landkreis, den sie nicht verlassen dürfen.“

Trotz des anhaltenden Nieselregens genießt Sanne jetzt die volle Aufmerksamkeit. Der spontane Einblick in die Realität des Flüchtlingsalltags lässt das Ehepaar aus Israel irritiert verharren. Als das Wort Deportation fällt, weiten sich die skeptischen Blicke zu entsetzter Ungläubigkeit. Entsprechend der Dublin II-Verordnung obliegt die Bearbeitung des Asylantrags dem Mitgliedsstaat, in dem der Flüchtling die EU zuerst betreten hat. Deshalb chartern die Behörden Flugzeuge, in denen die Flüchtlinge in der Regel nach Südeuropa deportiert werden. Dabei kollabieren die Asylsysteme dort zusehends, wie Sanne schonungslos zu berichten weiß: „Nachdem ihr Asylantrag in den Schubladen der Behörden verschwindet, landen die Flüchtlinge in Griechenland oder Italien ohne einen Cent oder Dokumente in der Tasche auf der Straße. Möchten Sie noch etwas über die rechten Schlägertrupps erfahren, die Nachts durch Athen ziehen, um Jagd auf Ausländer ohne Papiere zu machen?“

Doch auch in Deutschland sieht der Flüchtlingsalltag nicht gerade rosig aus. Davon berichtet Sanne jetzt einer Familie: „Die Asylbewerberheime, häufig baufällige Schulgebäude oder alte Jugendherbergen, sind völlig überfüllt. Dort vegetieren die Menschen dann nicht selten über Jahre vor sich hin. Wir prangern außerdem an, dass sich Flüchtlinge an der Supermarktkasse die Blöße geben müssen, mit Lebensmittelmarken zu zahlen.“ Betroffenes Nicken. Schlimm sei das alles, heißt es unisono. Doch neben all den betreten dreinblickenden Großmüttern gibt es auch jene, die von Solidarität mit „den Asylanten“ nichts wissen wollen. So wie der ältere Herr, der Sannes Erklärungsansatz übergeht und durch sein vollgeschnäuztes Taschentuch in einen wortkargen Monolog über die Vertreibungen in Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg verfällt. „Schlimm, nicht wahr, dabei sollte man doch aus der Geschichte lernen“, murmelt Sanne ihm hinterher.

Die lautstarke Parole „Alle abschieben, das ganze Pack“ reißt sie aus ihren Gedanken. Ein Mann hat sich vor der Flüchtlingsgruppe aufgebaut. Sanne schüttelt den Kopf, ehe der Schreibfehler „Asylrecht ist kein Selbstbedingsladen“ auf dem Banner ihr zumindest ein müdes Lachen abzuringen vermag. Tatsächlich lautet der entscheidende Einwand meist: Wer soll das bezahlen? Sanne erwidert auf solche Stammtischparolen entscheiden: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie mit Ihren Steuergeldern gerade an den Außengrenzen der EU ein Grenzregime vom Allerfeinsten mitfinanzieren? Was glauben Sie, was das kostet?“

Weniger rational ist die abschließende Frage eines Passanten nach Sannes Motivation zu beantworten: „Sind Sie selbst ein Flüchtling?“ Sanne ist weder geflohen, noch will sie Mitleid erhaschen: „Es geht um Solidarität mit den Betroffenen, die sonst keine Fürsprecher haben. Und darum, die prekäre Situation der Flüchtlinge endlich öffentlich anzusprechen.“

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Marius Münstermann is based in Berlin where he works as a freelance journalist. Marius serves as editor-in-chief at eufrika.org.

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