“Wer entwickelt eigentlich wen?”

Sunday 14th, June 2015 / 19:05 Written by

 

Bundestagsabgeordneter Niema Movassat (DIE LINKE) kritisiert, die Bundesregierung tue noch nicht genug gegen Armut und Hunger

Bundestagsabgeordneter Niema Movassat (DIE LINKE) fordert einen Paradigmenwechsel in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und mehr Engagement der Bundesregierung bei der Bekämpfung von globaler Armut und Hunger; Quelle: privat

Herr Movassat, Sie sind seit 2009 Abgeordneter im Bundestag und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Was haben die Globalen Nachhaltigkeitsziele mit Deutschland zu tun? 

Niema Movassat: Eine ganze Menge. Die neuen Globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) richten sich im Gegensatz zu den Millennium Development Goals (MDGs) nicht nur an die Entwicklungsländer, sondern an alle – sie haben also einen universellen Charakter. Daher müssen auch deutsche PolitikerInnen überlegen, was sie für die Umsetzung der SDGs tun können und sich fragen: Wie gehen wir mit dem Klima, unserer Handelspolitik, der Ungleichheit im eigenen Land um? 2016 werden laut Oxfam ein Prozent der Weltbevölkerung so viel wie die restlichen 99 Prozent zusammen besitzen. Diese Schere zwischen Arm und Reich geht auch in Deutschland auseinander. Die reichsten zehn Prozent besitzen 60 Prozent des Vermögens. Soll die globale Ungleichheit verringert werden, ist das auch eine Aufgabe Deutschlands.

Welches Resümee ziehen Sie für die MDGs?

Movassat: Die Bilanz der MDGs ist ernüchternd. Bei der Kinder- und Müttersterblichkeit gibt es große Erfolge, in vielen anderen Bereichen nicht. Diese Fortschritte sind nicht auf internationale Entwicklungspolitik, sondern auf nationale Politiken wie in China und Brasilien zurückzuführen, die Armut bei sich im Land bekämpft haben. Deutschland hätte mehr zu Erreichung der MDGs tun können. Bis heute ist die Bundesregierung weit davon entfernt, die 1970 versprochenen 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe auszugeben. Wir sind gerade einmal bei 0,4 Prozent. Das aber wäre wichtig gewesen, um die vielen Punkte der MDGs überhaupt finanzieren und damit umsetzen zu können. Zudem wurde es versäumt, politisch etwas an den Rahmenbedingungen zu ändern. Wer Armut und Hunger halbieren will, muss auch bereit sein, etwas gegen Nahrungsmittelspekulation, Landraub und Agrarsubventionen zu tun. In all diesen Bereichen ist nichts geschehen. Die Verantwortung wird auf das Entwicklungsministerium abgewälzt. Eigentlich müssten aber alle Ministerien ihre Politiken an den Zielen ausrichten. Es fehlt ein ganzheitlicher Ansatz.

Was will die Bundesregierung bei den SDGs besser machen?

Movassat: Die Bundesregierung bezieht sich in einem Positionspapier vom Dezember 2014 positiv auf die SDG-Debatte und bekräftigt die Zielsetzungen. Allerdings taucht das Wort Ungleichheit nicht einmal auf. Die konkrete Umsetzung ist noch nicht klar. Ich sehe nicht, in welchen Punkten die Bundesregierung bereit ist, vom “Business as usual” abzurücken. Sie macht weiter mit ihrer bisherigen Entwicklungspolitik, und ist nicht bereit, kohärente Strukturen zu schaffen, indem sie zum Beispiel aufhört, mit billigen Hähnchenteilen afrikanische Märkte zu zerstören oder mit klimaschädlichen CO2-Abgasen das Weltklima zu belasten. Das ist das zentrale Problem. “Business as usual” ist zur Erreichung der SGDs keine Option. Es hilft niemandem, sich theoretisch für die SDGs auszusprechen, dabei aber nicht klarzumachen, was konkret verändert werden soll.

Was wäre Ihrer Meinung nach nötig? 

Movassat: Wir bräuchten einen Paradigmenwechsel in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit – weg von dem paternalistischen Ansatz der Entwicklungshilfe (heißt zwar heute Entwicklungszusammenarbeit, ist aber faktisch nichts anderes als früher) hin zu echter internationaler, solidarischer Zusammenarbeit, die partnerschaftliche Strukturen schafft und nicht bevormundet.

Kann man etwas auf lokaler Ebene bewirken? 

Movassat: Auf lokaler Ebene sind viele sinnvolle Dinge möglich, aber entscheidender ist, dass sich die politischen Rahmenbedingungen ändern. Das beste Kleinbauernprojekt wird nicht nachhaltig sein, wenn nach Ende des Projekts die Existenz des Kleinbauers gefährdet ist, weil große Landgrabber sich sein Land holen oder Billigimporte aus dem Ausland seine Verkaufsmöglichkeiten zerstören. Insofern können lokale Maßnahmen niemals globale wirtschaftliche, politische und soziale Rahmenbedingungen verändern. Nur wenn letztere angegangen werden, können wir in der Entwicklungspolitik erfolgreich sein. Seit 50 Jahren wird schon Entwicklungspolitik gemacht, trotzdem hungern statistisch gesehen immer mehr Menschen. Wir sollten uns an erfolgreichen Armutsbekämpfungsprogrammen orientieren und Süd-Süd-Kooperationen fördern. Einige Länder des Südens haben ein viel besseres Verständnis für die Herausforderungen anderer Länder des Südens und können sie besser unterstützen als der Norden. Es sollte mehr auf die Vorschläge afrikanischer Länder gehört werden.

…und die wären?

Movassat: Viele Länder des Südens sind Mitglied der 1964 gegründeten G77. Diese haben im Juni 2014 ein Strategiepapier zu den SDGs mit einigen Forderungen vorgelegt. Dazu gehören zum Beispiel eine Demokratisierung von Weltbank und IWF, die Senkung des Einflusses von Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten in internationalen Gremien, das Verbot von Rüstungsexporten, die Schaffung eines Kompensationsfonds bei den Vereinten Nationen für klimafreundliche Technologien und volkswirtschaftlichen Ausgleich für koloniales Unrecht. Das sind viele gute Vorschläge; man müsste ihnen nur mehr Beachtung schenken.

Was steht dem im Weg? 

Movassat: Der Norden meint es besser zu wissen. Außerdem hat er politische und wirtschaftliche Interessen. Die Eliten der EU wollen nicht uneigennützig, dass neue Absatzmärkte (häufig in Afrika) für europäische Unternehmen erschlossen werden. Der ehemalige Entwicklungsminister der Bundesregierung Dirk Niebel (FDP) sagte immer, für jeden Euro Entwicklungshilfe kämen drei bis vier Euro wieder zurück”. Das passiert tatsächlich. Schaut man sich die globalen Kapitaltransfers an, sieht man, dass derzeit eine Billion Dollar aus den Ländern des Südens jährlich in den globalen Norden abfließen. Da fragt sich: Wer entwickelt eigentlich wen? An diesen Strukturen etwas zu ändern, besteht offensichtlich kein Interesse. Grundsätzliche Veränderung hieße globale Umverteilung in finanzieller Hinsicht. Hierzu gehörte eine solidarische Handelspolitik, eine Besteuerung von Spitzeneinkommen und großen Vermögen, eine Transaktionssteuer, eine Demokratisierung internationaler Organisation, kurz: die Entmachtung der Eliten. Aber genau diese geben ja die Politik vor.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Movassat: In Tansania zum Beispiel haben sich über 40 NGOs zur „Tanzania Coalition for Sustainable Development” zusammengeschlossen, um den Post-2015-Prozess kritisch zu begleiten. Das zeigt: Das bewegt die Menschen. In Deutschland muss sich noch ein breiterer zivilgesellschaftlicher Diskurs entwickeln. Es muss klar gemacht werden, dass uns die SDGs etwas angehen und wir eine globale Verantwortung tragen. Wir haben mehr Möglichkeiten, uns für nachhaltige Entwicklung einzusetzen, als die meisten Länder des Südens und müssen zur Erreichung der SDGs zu strukturellen und nicht nur kosmetischen Veränderungen bereit sein.

Niema Movassat (30): gelernter Jurist, seit 2009 MdB und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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About the author

Fanny Lüskow hat Soziologie in Kiel und Berlin studiert und ihre Masterarbeit über die Repräsentation des Überbevölkerungsdiskurses in deutschen Printmedien geschrieben. Von 2011 bis 2012 hat sie in Tansania gelebt und an staatlichen Grundschulen im Bereich der ländlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung gearbeitet. Seitdem engagiert sie sich insbesondere in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit und arbeitet als freie Journalistin für die taz und das Afrika-Magazin LoNam.

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