Nordafrika vor einem „Arabischen Herbst“?
Heute steht in Marokko der neue Verfassungsentwurf zur Abstimmung. Während die Bilder vom Tahir-Platz um die Welt gingen und in der arabischen Welt eine Despoten-Dämmerung einläuteten, sitzt der König von Marokko nach wie vor fest auf dem Thron. Nicht zuletzt die mediale Berichterstattung schwimmt auf der Welle der Demokratisierung – und übersieht dabei leicht landesspezifische Gegebenheiten. Im Interview mit eufrika.org spricht Dr. Naseef Naeem über mögliche Bedrohungen für die jungen Demokratiebewegungen in Tunesien, Ägypten und Marokko und relativiert unter anderem die Debatte um die sogenannte Facebook-Revolution.
eufrika.org: Was macht Mohammed Ben Al-Hassan in Marokko zu solch einem sympathischen König? Immerhin richten sich die landesweiten Proteste vorrangig weniger gegen die Monarchie als gegen die Regierung – wenngleich diese vom Königshaus kontrolliert wird.
Naseef Naeem: Weder in Saudi-Arabien, noch in den anderen Golfstaaten, nicht in Jordanien oder dem Oman, nur in Bahrain gab es wirkliche Unruhen – auch nicht in Marokko. Das hängt mit der Verknüpfung zwischen Staat auf der einen und der Person des Monarchen, das heißt der Instanz der arabischen Monarchie, auf der anderen Seite zusammen. Die Dynastie in Marokko ist die älteste in der gesamten arabischen Welt.
Die Menschen gehen nicht auf die Straße, um den Monarchen zu stürzen, weil sie nicht den Staat auflösen wollen. Sie wollen Reformen. Sie wollen ausschließlich sogenannte demokratische Prozesse in Gang setzen, dahingehend, dass der Mensch in diesem Staat viel mehr Rechte zugesprochen bekommt; mehr Verteilung, mehr Gerechtigkeit, danach streben die Leute.
Es geht aber nicht um die Abschaffung der Monarchie. Im Gegenteil, in allen Republiken merken wir, dass das Volk als Souverän – als solcher in der Verfassung festgelegt – die Herrschaft, einen Regimesturz, eine totale Veränderung der politischen Verhältnisse herbeisehnt. Wir müssen hier im Staatsverständnis zwischen Republik und Volkssouverän, Monarchie und dem Souverän im Staat unterscheiden. Diese Monarchien haben viel mehr Integrationskraft als die Republiken.
In Tunesien und Ägypten hatten wir keine Revolution, bei der das Volk die Bastille gestürmt, den Tyrann umgebracht hat und anschließend eine jakobinische Zeit anbrach.
eufrika.org: Mehr Befugnisse für den Ministerpräsidenten, Stärkung des Parlaments, Unabhängigkeit von Exekutive und Legislative, das sieht der neue Verfassungsentwurf für Marokko vor. Vielen Kritikern ist dies jedoch zu wenig. Die Reformen seien nicht weitreichend genug, um aus der absolutistischen Herrschaft des Königshauses eine parlamentarische Monarchie zu formen.
Naeem: In Marokko muss man zur Zeit zwei Dinge unterscheiden: Die Reformvorschläge haben die Position des Monarchen – die verfassungsrechtlich stark ist – nicht sehr berührt, geschweige denn geschwächt. Nach dem neuen Verfassungsentwurf behält der Monarch seine Position komplett bei. Laut Artikel 47, Absatz 1 ist der Monarch jedoch verpflichtet, den Kandidaten, der die Parlamentswahl gewinnenden Partei, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Im Zusammenhang mit der Position des Königs im staatlichen System ist das die einzig essentielle Neuerung in diesem Entwurf, alles andere ist fast eine Eins-zu-eins-Übertragung.
Alle von Ihnen erwähnten Änderungsvorschläge wie die Stärkung des Parlaments, sind auch schon in der bisherigen Verfassung festgeschrieben.
Ich sehe nachwievor ein großes Problem darin, dass der Monarch in Marokko das Recht besitzt, das Parlament aufzulösen – ohne jegliche unabhängige Kontrolle. Wenn wir zum Beispiel von einer konstitutionellen Monarchie nach britischem Vorbild sprechen, hat der Monarch allein dieses Recht nicht. Der Monarch in Marokko hat also die Macht behalten.
In Tunesien und Ägypten hat das Militär faktisch im Namen des Volkes geputscht.
eufrika.org: Offenbar wurden die in den bisherigen Verfassungen der verschiedenen arabischen Staaten verankerten Punkte bislang nicht zufriedenstellend in die Praxis umgesetzt. Ist mit den Revolutionen ein wirklicher Systemwechsel realistisch?
Naeem: Ich möchte zunächst einen Begriff klären, den der Revolution. In Tunesien und Ägypten hatten wir keine Revolution, bei der das Volk die Bastille gestürmt, den Tyrann umgebracht hat und anschließend eine jakobinische Zeit anbrach. Es waren keine Revolutionen in diesem Sinne.
Wie viele Leute waren in Ägypten auf den Straßen , vielleicht drei Millionen? Maximal. Von 86 Millionen. Das heißt, die Wirkung der Straße war in diesem Punkt im Vergleich beispielsweise zum Militär gering. In Tunesien und Ägypten hat das Militär faktisch im Namen des Volkes geputscht. In Ägypten sieht es bisher so aus, als legitimiere sich das Militär als einziger Herrscher im Land dadurch, dass man dem Volkswillen Folge leistet. Das ist ein deutlicher Unterschied zu anderen Revolutionen. Die Kräfte, die momentan die Übergangsregierung bilden, waren auch ein wichtiger Bestandteil des Mubarak-Regimes.
Die Sozialen Medien haben eine virtuelle Freiheit geschaffen.
eufrika.org: Wie bewerten Sie die Rolle der sozialen Medien wie Facebook und Twitter?
Naeem: Da gibt es bei den Politologen im Wesentlichen zwei Meinungen: Die einen sagen, es war eine Facebook-Revolution, das ist im Übrigen auch die vorherrschende Meinung in den arabischen Ländern. Die gegenläufige Meinung beruht auf Fakten. Wie viele Leute haben in diesen Ländern Zugang zum Internet? Es ist eine kleine Elite, keineswegs flächendeckend verbreitet.
eufrika.org: Würden Sie sich persönlich auf eine der Thesen festlegen wollen?
Naeem: Ich denke, die Antwort liegt irgendwo in der Mitte. Wir dürfen die Wirkung der Arabisch sprachigen Medien nicht vergessen. Sowohl Al Jazeera als auch Al Arabiya haben live vom Tahir-Platz berichtet. Dabei gab es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Al Arabiya hat sich neutral gezeigt, keine großen Töne gespuckt, versucht, beide Seiten darzustellen.
Al Jazeera dagegen hat sich von Anfang an klar gegen das Regime positioniert und die Forderungen der Demonstranten unterstützt. Die Berichterstattung von Al Jazeera hat die Proteste angestachelt und die Leute in ihrer Wut bekräftigt.
Aber Facebook? Die Sozialen Medien haben eine virtuelle Freiheit geschaffen. Einen virtuellen Rahmen eröffnet, in dem jeder seine Meinung anonym äußern kann. Das Problem war, dass sich von Angesicht zu Angesicht niemand trauen konnte. Wer wusste schon, wer Gegner und wer Sympathisant war. Facebook und Twitter boten hier die Möglichkeit, anonym in Kontakt zu treten. Das kann selbst ein mächtiger Staat nur schwer kontrollieren. Dieser Prozess lief parallel zur Berichterstattung im Fernsehen ab.
Die wirtschaftliche Schieflage in Staaten wie Ägypten und Tunesien ist zum Teil unlösbar.
eufrika.org: Was waren dann die Beweggründe hinter den Unruhen?
Naeem: Werfen wir einen Blick zurück auf die Anfänge in Tunesien. Dort hat sich ein hochgebildeter Akademiker selbst in Brand gesetzt. Das war der Auslöser dafür, dass die Menschen auf die Straße gegangen sind. Ob die einzelnen Motive und die Frustration nun einen sozialen oder freiheitlich gefärbten Hintergrund hatten, ist schwer zu sagen. Es war die Gesamtlage.
An dieser Stelle möchte ich noch etwas betonen: Die wirtschaftliche Schieflage in Staaten wie Ägypten ist zum Teil unlösbar. Allein das enorme Bevölkerungswachstum macht die Hoffnung auf gesamtgesellschaftlichen Wohlstand nahezu aussichtslos. Dieses Problem bestand unter Mubarak und wird auch in Zukunft bestehen.
Hier greift wiederrum der Aspekt der Medien. Der Unterschied von heute im Vergleich zu den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern besteht darin, dass in einer immer stärker vernetzten Welt das Leben andernorts greifbar wird. Die Globalisierung hat den Blickwinkel der Bevölkerung erweitert. Zunächst beteiligten sich vor allem junge Akademiker an den Protesten. Es waren somit soziale und ökonomische Faktoren, die nicht voneinander zu trennen sind und letztlich ihren Ausdruck in Protesten fanden.
Die Ägypter haben sich in eine Militärdiktatur hineinmanövriert. Nun müssen sie damit leben, dass sie unter dem Recht des Militärs stehen.
eufrika.org: In den wenigsten Revolutionen gelingt es, die alten Machtstrukturen gänzlich zu durchbrechen und die etablierten Kräfte abzusetzen. Nicht wenige befürchten, dass die Profiteure der alten Regime sich die nach wie vor ungeregelten Zustände zu nutzen machen wollen, um ihren Machteinfluss aufrechtzuerhalten.
Naeem: Das ägyptische Volk steckt in einer Zwickmühle. Einerseits kann das Volk jetzt nicht wieder auf die Straße gehen und gegen die Militärdiktatur wettern. Nach dem derzeitigen Fahrplan der Verfassung sollen im September Wahlen stattfinden. Das Verfassungskonvent, das daraus hervorgeht, soll wiederrum binnen sechs Monaten einen endgültigen Verfassungstext ausarbeiten, über den das Volk schließlich innerhalb von 15 Tagen abstimmen muss. Daher glaube ich nicht, dass wir vor Ende 2012 eine neue ägyptische Verfassung haben werden.
Das Militär behält die Macht, bis ein gewählter Staatspräsident seine Aufgabe übernimmt. Hier haben wir es mit einer wirklichen Macht des Militärs zu tun – und zwar bislang auf unbegrenzte Zeit. Nichtsdestotrotz bin ich dafür, dass der Übergangsprozess derart langsam abläuft.
Es braucht Zeit, eine Verfassung auszuarbeiten, die auf einem allgemeinen Konsens beruht. Im Irak haben wir gesehen, dass eine überhastete Verfassungsausarbeitung in nur drei Monaten nicht funktionieren kann. Die Ägypter haben sich in eine Militärdiktatur hineinmanövriert. Nun müssen sie damit leben, dass sie unter dem Recht des Militärs stehen.
Bislang haben wir keine einzige islamische Kraft im arabischen Raum, die Realpolitik verfolgt.
eufrika.org: In vielen Gebieten ist die Wirtschaft und in der Folge der Arbeitsmarkt zusammengebrochen. Die Arbeitslosigkeit nach der Revolution ist höher als zuvor – die Touristen bleiben aus, ausländische Investoren flüchten. Sehnen sich die Menschen, die monatelang auf den Straßen demonstriert haben, wieder nach geregelten Verhältnissen, womöglich nach der alten Ordnung?
Naeem: Wir müssen zwei Sachen trennen, zwischen der Haltung mancher Kräfte zu bestimmten politischen Freiheiten und dem Versuch, Normatives einzugrenzen. Drittens müssen wir die organisierten Kräfte im islamischen Spektrum von den Kräften unterscheiden, die einem Extremismus zuzuordnen, aber schwach organisiert sind.
Die Gefahr, die ich sehe, besteht in der Herausbildung asymmetrischer Strukturen nach dem Vorbild al-Qaidas . Jeden Tag hört man von der Zerstrittenheit in der Führungsriege der Muslimbruderschaft. Tendenziell könnten immer neue Splittergruppen entstehen und unter Umständen auch zu den Waffen greifen.
Die Bedrohung der inneren Sicherheit erhöht sich meiner Meinung nach durch diese Elemente viel mehr, als durch die Machtergreifung einer organisierten Kraft. Entweder manövrieren sich Gruppen ins Abseits, wie beispielsweise die Hamas, oder sie entscheiden sich für Realpolitik. Bislang haben wir keine einzige islamische Kraft im arabischen Raum, die eine solche Politik verfolgt.
Sollte die Muslimbruderschaft einen wirklichen Führungsanspruch entwickeln, muss sie sich erst beweisen und zeigen, inwieweit sie in der Lage ist, pragmatisch zu agieren.
Ägypten ist nicht nur an die bestehenden Verpflichtungen im Nahen Osten gebunden. Ägypten ist nicht der Iran, sondern ein wichtiger Akteur in der internationalen Gemeinschaft.
Das Militär war niemals ein Freund der Islamisten. Es hat den Umsturz verzögert, um sicherzustellen, dass die Islamisten nicht die Macht ergreifen. Zwar glaube ich nicht, dass wir in Ägypten oder Tunesien eine neue Art der islamischen Revolution gesehen haben, aber die Gefahr geht von den asymmetrischen Kräften aus, die sich am Rande dieser Entwicklungen gruppieren.
Das politische Signal, das vom Strafprozess gegen Ben Ali ausgeht, ist eine Katastrophe, ein Totalausfall.
eufrika.org: Was sind die Alternativen zu den alten Machthabern, konstituieren sich bereits Parteien, die in naher Zukunft einen geregelten politischen Alltag führen könnten?
Naeem: Das Problem ist, dass nur auf die sogenannten islamischen Bewegungen geschaut wurde. In der Tat hatte diese Strömung in der Vergangenheit immer eine größere Anziehungskraft als die liberalen Parteien. Das ist damit zu erklären, dass die liberalen Parteien Erfahrungen mit dem Kommunismus oder einer Art des Laizismus hatten. Kurzum, die politischen Systeme waren undemokratisch.
Nun lautet die Frage, ob die politischen Lager über ausreichend Integrationskraft verfügen. Es ist einfach zu sagen, meine Religion ist mein Glaube, meine Verfassung, mein Gesetz. Dass man diese Vorstellungen aber konkretisiert, ist schwierig.
Die Muslimbrüder werden Ägypten niemals alleine regieren können. Ich denke nicht, dass das Land eine parlamentarische Demokratie installiert. Es wird ein präsidiales System bleiben.
Ein starker Präsident an der Spitze wird auch den sogenannten islamistischen Kräften entgegenwirken können. Diese haben nie die Absicht erklärt, einen eigenen Kandidaten zu stellen.
eufrika.org: Wie kann mit den alten Verhältnissen aufgeräumt werden? Die juristische Aufarbeitung jedenfalls scheint schwer anzulaufen. Dort wo sie bereits begonnen hat erweckt sie eher den Anschein einer Siegerjustiz, wie der jüngste Prozess gegen den ehemaligen tunesischen Präsidenten Ben Ali zeigt. Soll so der Aufbruch in eine demokratische Zukunft aussehen?
Naeem: Das Strafprozessrecht in Tunesien und Ägypten ist französischen Ursprungs, nach dem eine Verurteilung in Abwesenheit lediglich ein Instrument darstellt. Sollte die Justiz dem Angeklagten später habhaft werden, entfällt dieses Urteil jedoch und das Verfahren wird neu aufgerollt. Das ist die juristische Seite.
Gleichwohl ist das politische Signal eine Katastrophe, ein Totalausfall. In dieser Angelegenheit kann ich die tunesische Justiz nicht verstehen. Jedem sollte bewusst sein, dass Saudi-Arabien Ben Ali nicht ausliefern wird, das ist ausgeschlossen.
Die Art und Weise, in der sich die tunesische Justiz mit diesem Prozess nach außen präsentiert, ist auf internationaler Ebene nicht akzeptabel – politisch natürlich, nicht juristisch.
In derartigen Prozessen sollte meiner Meinung nach nicht auf alle zur Verfügung stehenden Mittel zurückgegriffen werden. Der Prozess gegen Ben Ali ist nur zum Teil juristisch, mindestens jedoch ebenso politischer Natur: Hier werden die Weichen für die Zukunft des Landes gestellt. Es ist eine politische Abrechnung mit dem alten System.
Die Gefahr lauert im Zerfall der ehemals starken Staaten. Das ist ein Problem für den gesamten Mittelmeerraum.
eufrika.org: Rechnen Sie mit einer baldigen Stabilisierung der Region oder droht gar ein Rückfall und wir unterhalten uns in absehbarer Zeit über den „Arabischen Herbst“?
Naeem: Die starken Regime, die bislang mit harter Hand regierten, haben ja nicht bloß sich selbst gestützt, sondern auch dem Staat als solchen eine gewisse Sicherheit geboten.
So war beispielsweise der Schutz der Touristen gewährleistet. Die Gefahr besteht, dass diese Sicherheitslage jetzt zerfällt, so wie wir es seit 2003 im Irak erleben. Der Staat ist zu schwach, um Sicherheit herzustellen, zu schwach, Recht und Ordnung anzuwenden. Dieses Problem sehe ich in allen Staaten, über die wir uns hier unterhalten.
Auf der anderen Seite haben die sogenannten Revolutionen den Menschen einige Freiheiten wie die der Presse eingebracht, die jetzt nicht mehr zurückgenommen werden können.
Das hat auch eine übertragende Wirkung auf andere Staaten, in denen die Menschen sehen, welche Freiheiten andere Gesellschaften genießen. Ich bleibe dabei: Die Gefahr lauert im Zerfall der ehemals starken Staaten. Das ist ein Problem für den gesamten Mittelmeerraum.
eufrika.org: Wie bewerten Sie die zukünftige Bedeutung Nordafrikas? Kann gerade Ägypten sich wieder als verlässlicher Partner auf der Ebene der internationalen Beziehungen und als dominante Verhandlungspartei in regionalen Dialogen etablieren?
Naeem: Ich sehe kein Hindernis dafür, dass Ägypten wieder zu alter Stärke findet. Die Frage richtet sich eher an den Westen, der sich bislang mit eindeutigen Stellungnahmen doch sehr zurück gehalten hat: Wird man bereit sein mit dem Militär zu verhandeln oder wird man dem nach kurzer Zeit überdrüssig und wir sehen eine weitere Intervention in die innerägyptischen Belange?
Es bedarf abwartender Zurückhaltung. Das Militär pflegt exzellente Beziehungen zu den USA. Die derzeitige Führungsriege der ägyptischen Regierung wurde schließlich von Washington ausgebildet.
Das Land verfügt ja zur Zeit durchaus über eine handlungsfähige Regierung – mit Exekutive und dem Präsidenten in Personalunion. Das Militär stellt die legislative Gewalt und den integrativen Faktor im staatlichen Verhältnis dar.
eufrika.org: Und Ägyptens Rolle im Nahost-Konflikt?
Ich wage zu bezweifeln, dass momentan irgendeine Kraft den gegenwärtigen Zustand im Nahost-Konflikt derart zu verändern sucht, die Friedensverträge mit Israel aufzukündigen. Anders wäre die Situation, – und das sage ich nicht ohne Vorbehalte – wenn sich die Lage in Ägypten durch das mehrheitliche Aufbegehren der Gesellschaft zuspitzen sollte.
Anhaltende Proteste am Reformwillen des Militärs sind ja durchaus vorhanden. Merkt das Volk, dass das Militär dem Willen nach schneller Umsetzung der revolutionären Forderungen nicht nachkommen sollte, gerät die Übergangsregierung unter Druck.
Unter solchen Umständen könnte das Militär in alte Muster zurückfallen und ein Feindbild skizzieren, die Bedrohung der inneren Sicherheit aus dem Ausland. Das ist ein Fall, der nicht auszuschließen ist. Ob Ägypten jedoch bereit ist, die guten Beziehungen zu den USA zu opfern, bleibt abzuwarten.
Investitionen haben mit Demokratie praktisch nichts zu tun.
eufrika.org: Wie steht es um das Engagement der neuen Regierungen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent? Man denke beispielsweise an Ägyptens rechtlichen Status am Nil oder aber an den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelimporten im Maghreb und dem massenhaften Landerwerb nordafrikanischer Staaten in subsaharischen Ländern.
Naeem: Ägypten bleibt die dominante Macht auf dem afrikanischen Kontinent, Südafrika einmal ausgeklammert. Die Rolle, die Ägypten unter Mubarak eingenommen hat, wird beibehalten werden.
Die Ablösung eines Präsidenten ändert wenig am politischen Selbstverständnis des Landes. Kein afrikanisches Land würde derzeit einen ernsthaften Konflikt mit Ägypten riskieren, bloß weil Mubarak aus dem Amt gejagt wurde. Die innerpolitischen Entwicklungen haben wenig Einfluss auf die außenpolitische Stellung des Landes.
eufrika.org: Locken stabile Demokratien, in denen die Menschenrechte geachtet werden, auch wieder ausländische Wirtschaftsakteure in den Maghreb und nach Ägypten?
Naeem: Investitionen haben mit Demokratie praktisch nichts zu tun. Es wurde ja auch unter den alten Herrschern investiert.
Das Engagement ausländischer Wirtschaftsakteure hängt viel mehr mit der Stabilität, der reinen Investitionssicherheit in den einzelnen Ländern zusammen. Ein erkennbares System muss wiederaufgebaut werden. Investoren müssen erkennen können, dass ihr Geld sicher angelegt ist. Ich sehe hier keine Verknüpfung zwischen demokratischen Strukturen und unternehmerischen Aktivitäten.
Die Verlierer der Globalisierung bilden die gesellschaftliche Mehrheit.
eufrika.org: Wie kann die Verteilung sowohl der ökonomischen Ressourcen gerecht gestaltet werden? Es geht nicht zuletzt um den enormen Reichtum an fossilen Brennstoffen in der Region.
Naeem: Die Verteilung der Ressourcen innerhalb der Gesellschaft hängt davon ab, inwieweit die neuen Systeme sozial sein werden, ein Sozialstaatsprinzip Anwendung findet. Das ist die große Frage.
Hier sehe ich zwei Probleme: Auf der einen Seite die juristischen und politischen Mechanismen, auf der anderen die ökonomische Wirklichkeit.
In der Realität werden diese Staaten auch in Zukunft niemals ein wirtschaftliches Niveau erreichen, das dem Standard Europas oder der Leistung der Golfstaaten genügen könnte. Aus genannten Gründen wie dem Bevölkerungswachstum ist das meiner Meinung nach unmöglich.
Inwieweit man versucht, die gegenwärtige Schieflage zu meistern und den Armen einen Anteil am Wohlstand zukommen zu lassen, hängt wiederum maßgeblich von der Stabilität ab. Die Verlierer der Globalisierung bilden die gesellschaftliche Mehrheit.
Sollte die Umverteilung scheitern und die neuen Regierungen nicht dafür sorgen, dass die Bevölkerung ein größeres Stück vom Kuchen abbekommt, wird sich die Region nicht stabilisieren. Ob die Staaten in der Lage sein werden, diese Aufgabe zu bewältigen, wird sich zeigen. Dazu können zur Zeit noch keine Prognosen abgegeben werden.
Zum Verfassungsreferendum in Marokko:
Deutsche Welle: „Marokko am Scheideweg“
Die aktuelle Lage in Tunesien:
taz: “Das Ende der Heimlichtuerei”
Zur neuen Protestbewegung in Ägypten:
Die Presse: “Sie stehlen uns unsere Revolution”
n-tv: “Unmut in Ägypten wächst – Hunderte besetzen Tahrir-Platz”
Weitere Hintergrundberichte:
eufrika.org: „Aufbruch in der Arabischen Welt“
Indikatoren und Fakten zum Umbruch in der Arabischen Welt von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung degradiert Bernard Haykel Mubaraks Ägypten zum „Treppenwitz“ der arabischen Welt und widerspricht damit der weitläufigen Meinung vom starken Regime als dominanter Regionalmacht.
Von Marius Münstermann und David Drengk