Parlamentswahlen in Marokko: „Ich boykottiere, also bin ich“
Heute finden in Marokko vorgezogene Parlamentswahlen statt. Demonstranten rufen zum Boykott auf. Sie werfen Staatsoberhaupt König Mohammed VI. vor, mit Scheinreformen und repressiven Maßnahmen seine Macht zu sichern. Freie Wahlen seien vor diesem Hintergrund eine Farce. Die aussichtsreichsten Parteien bezeugen der Monarchie indes ihre Loyalität.
Zu Beginn des Jahres hatte die Protestwelle in der arabischen Welt auch Marokko erreicht, der Duft der tunesischen Jasminrevolution wehte durch die Hauptstadt Rabat. Doch anders als in Tunesien und Ägypten blieb der vermeintliche „Wind of Change“ ein eher laues Lüftchen, nicht im Stande, die Regierung durch Massenproteste aus dem Amt zu fegen. König Mohammed VI. reagierte frühzeitig auf den öffentlichen Druck, bereits im März kündigte er umfassende Reformen an. Ein im Juli zur Abstimmung gestellter Verfassungsänderungsentwurf wurde in einer Volksabstimmung angenommen, die ursprünglich für 2012 angesetzten Parlamentswahlen vorgezogen.
Dennoch hielt die Kritik an der unantastbaren Position des Königs an. Seit einigen Tagen nun formiert sich erneut eine Protestbewegung, die zum Boykott der Parlamentswahlen aufruft. Gestern allein versammelten sich etwa 3.000 Menschen in den Straßen der Hauptstadt Rabat, in Tanger sollen es 10.000, in Casablanca 6.000 gewesen sein. Zu den Protesten unter dem Motto „Ich boykottiere, also bin ich“ riefen verschiedene Bewegungen auf, darunter das February 20th Youth Movement, ein loses Bündnis und eine der führenden Kräfte während der ersten Proteste zu Beginn des Jahres; die Vereinigung al-Adl wa’l Ihsan („Gerechtigkeit und Wohltätigkeit“) mit islamischer Referenz, der die Gründung einer politischen Partei bis heute verboten bleibt, aber auf Grund ihres karitativen Engagements vor allem in jenen Bezirken, in den das staatliche Fürsorgesystem versagt hat, sowie in weiten Teilen der Bevölkerung Unterstützung genießt. Die al-Adl wa’l Ihsan zählt schätzungsweise 100.000 Mitglieder; zudem rufen drei kleinere Parteien des linken Flügels ihre Mitglieder zum Boykott der Wahlen auf: an-Nahj ed-Dimuqrati („Demokratischer Pfad“), die sozialdemokratische Avantgarde-Partei PADS (Parti de l’avant-garde Démocratique et Socialiste) sowie die vereinte Sozialistenpartei PSU (Parti socialiste unifié).
Seit Wiederaufkeimen der Proteste ab dem 20. Oktober verstärkte der Regierungsapparat erneut die Polizeipräsenz. Parallel nahmen auch die Festnahmen von Demonstranten wegen des Aufrufs zum Boykott zu, wie Menschenrechtsorganisationen beklagen. Besonders heftige Kritik muss sich König Mohammed VI. im Fall des Rappers Mouad Belrhouate gefallen lassen. Belrhouate, der unter dem Pseudonym el-Haket („Der Empörte“) auftritt, wurde am 9. September wegen des Vorwurfs einer Tätlichkeit festgenommen. Seither demonstrieren vor allem Jugendliche für seine Freilassung. Viele vermuten, hinter der Verhaftung stünden vorrangig die oftmals regierungskritischen Texte des Künstlers.
Wer am Wahltag nicht zur Urne ginge und stattdessen zu Hause bleibe, sei weder Vaterlandsverräter noch Politik verdrossen, betonten viele Demonstranten. Viele kritisieren, dass der König nach wie vor nahezu uneingeschränkte Macht besäße. Unter den gegebenen Umständen sei eine freie Wahl nicht möglich. Najib Chaouki, einer der Wortführer der Proteste, konstatiert:
Loyalität und Ehrfurcht vor der Monarchie
Tatsächlich unterwirft sich die Monrachie nur formal der Entscheidungsfindung der Bevölkerung. Der König hat weiterhin das Recht, das Parlament aufzulösen, bleibt Oberbefehlshaber der Armee und behält das letzte Wort in sämtlichen religiösen und juristischen Angelegenheiten.
Doch die gesonderte Stellung der Monarchie – Artikel 46 der im Juli plebiszitär bestätigten Verfassung garantiert dem König weiterhin „Unantastbarkeit“ – ist in Marokko gesellschaftlich fest verankert. Bereits zu Beginn des Jahres zeigte sich, welchen Rückhalt das Königshaus in der Bevölkerung genießt. Auch aktuell verfügt die Monarchie neben einer starken Propagandamaschinerie über viele Befürworter im ganzen Land – nicht zuletzt, weil sich strafbar macht, wer öffentlich für die Abschaffung der Monarchie eintritt. Doch die Popularität des Königs ist auch eng mit seiner Rolle als „Emir der Gläubigen“ verknüpft. Die konstituelle Monarchie in Marokko gilt als älteste in der arabischen Welt und leitet ihre Legitimation als Vertreter der mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung durch ihre direkten Abstammung vom Propheten Mohammed ab.
Da sich das Staatsoberhaupt mit der Verfassungsreform lediglich dazu verpflichtet hat, bei der Bildung einer neuen Regierung den Premierminister aus den Reihen der stärksten Partei zu ernennen, kann Mohammed VI. auf eine grundlegende Sympathie der Parteien setzen. Die besten Aussichten, bei den Parlamentswahlen eine regierungsfähige Mehrheit zu erlangen, genießt derzeit die PJD (franz.: „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“). Die Partei, die bereits seit 1997 (damals noch unter dem Namen MPDC, Mouvement populaire démocratique et constitutionnel und zwischenzeitlich in MUR, Mouvement unité et réforme, umbenannt) im Parlament vertreten ist (zuletzt mit 47 Sitzen als stärkste Kraft), beruft sich in ihrer Ideologie auf die türkische Regierungspartei um Premierminister Erdoğan, deren liberal-konservativen Kurs sie auch für die marokkanische Politik eingeschlagen hat. So war die PJD in letzter Zeit bemüht, ihre wirtschaftspolitischen Kompetenzen zu betonen.
Die meisten Beobachter schätzen eine Koalition acht königstreuer Parteien als größten Widersacher der PJD ein. Stärkste Partei dieses Bündnisses ist die Partei der Authentizität und Modernität (Parti Authenticité et Modernité, PAM). Anders als al-Adl wa’l Ihsan, die auf Grund ihrer Verwurzlung im Sufismus nicht nur jegliche Form weltlicher Herrschaft sondern auch den König als religiösen Repräsentanten ablehnt, erhofft sich das Koalitionsbündnis gestärkt und als großer Gewinner aus den Parlamentswahlen hervorzugehen.
“König der Armen”
Viele der Demonstranten äußern sich skeptischer, was die Zukunft ihres Landes angeht. Vor allem unter Jugendlichen
herrscht Perspektivlosigkeit, der Glaube an eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ist bei den meisten gering. Auch deshalb halten sie die Parlamentswahlen für blanken Hohn. Politik gilt in Marokko als Feld für maßlose persönliche Bereicherung. König Mohammed VI., der sich vom Volk gerne als „König der Armen“ verehren lässt, sei mit einem geschätzten Privatvermögen von rund 2 Milliarden Euro an keinerlei Demokratisierung interessiert. Da nützten auch die jüngsten Zugeständnisse der Monarchie nichts. Unter diesen Umständen sind vielen Menschen in Marokko alle Parteien gleich. Bevor in Marokko Demokratie gelebt werden kann, muss ein freies Leben möglich sein – in dem auch Aufrufe zum Wahlboykott und die Einforderung von Mitsprache erlaubt sind.
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