Parlamentswahlen in Marokko: Realpolitik als Alternative zur Revolution?

Monday 28th, November 2011 / 02:08 Written by

 Bei den Parlamentswahlen in Marokko hat die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la Justice et du Développement - PJD) nach vorläufigen Ergebnissen eine regierungsfähige Mehrheit erlangt. Mit großem Vorsprung vor den engsten Konkurrenten wird die PJD offenbar eine Koalitionsregierung führen. Wenngleich das Parlament der Entscheidungshoheit des Königs untergeben bleibt, sehen Beobachter den Beginn eines Demokratisierungsprozesses. Die neue Regierung als auch die Monarchie werden den öffentlichen Forderungen gerecht werden müssen. Bietet die Realpolitik eine echte Alternative zur Revolution – für die Armen und Unterdrückten in Marokko, aber auch mit Vorbildfunktion für eine ganze Region?

Bereits vor Verkünden der offiziellen Endauszählung der Stimmen erklärte Abdelillah Benkirane, Generalsekretär der PJD, seine Partei zum Wahlsieger:

Wir haben ein besseres Ergebnis erzielt, als wir erwartet haben.”

Abdelilah Benkirane auf einer Pressekonferenz der PJD

Abdelilah Benkirane auf einer Pressekonferenz der PJD

Bereits im Vorfeld der Wahlen am Freitag war die PJD als Favorit gehandelt worden. Dennoch zeigten sich viele Anhänger überrascht. Berichten zu Folge kam es am Abend im ganzen Land zu euphorischen Feierlichkeiten. Nach der im Juni verabschiedeten Verfassung wird Staatsoberhaupt König Mohammed VI., der dem Parlament faktisch weiterhin in „unantastbarer“ letzter Instanz vorsteht, den Kandidaten der siegreichen Partei zum Premierminister ernennen.

Mit mehr als 80 der insgesamt 325 Sitze der sogenannten Repräsentantenversammlung* (Majlis al-Nuwab) ist die PJD in einer bequemen Verhandlungsbasis für Koalitionsgespräche. Die zweitplatzierte Istiqlal („Unabhängigkeitspartei“) landet mit schätzungsweise 45 Sitzen weit abgeschlagen. Auch die gemeinsame Besetzung von 110 Parlamentssitzen durch ein Bündnis acht königstreuer Parteien dürfte der Freude bei der PJD keinen Abbruch tun. Die neue Verfassung garantiert der Partei mit den meisten alleinigen Sitzen im Parlament den Vorrang für die Regierungsbildung. Nach Regierungsangaben lag die Wahlbeteiligung bei 45 Prozent und somit höher als bei der vergangenen Wahl 2007, wenngleich die Rekordbeteiligung aus dem Jahr 2002 knapp verfehlt wurde. Allerdings waren von den rund 20 Millionen Wahlberechtigten** nur 13,6 Millionen registriert.

Generalsekretär Benkirane erklärte, seine Partei sei bei den ausstehenden Koalitionsverhandlungen mit Ausnahme der königsnahen PAM („Partei für Authentizität und Modernität“) für alle potentiellen Partner offen. Die PAM, die unmittelbar nach ihrer Gründung im Jahr 2008 durch den amtierenden König Mohammed VI. als stärkste Kraft ins Parlament einzog, musste nun eine herbe Niderlage einstecken: Nur 33 Sitze kommen ihr nach den jüngsten Hochrechnungen im neuen Parlament zu.

Bemüht, das demokratisch freiheitliche Image seiner Partei zu betonen, äußerte sich Benkirane zur künftigen Ausrichtung der PJD, die vor allem in westlichen Medien voreilig als „islamistische“ Bewegung wahrgenommen wird:

We are going to rule as a political and not a religious party. Religion belongs to mosques and we are not going to interfere in people’s personal lives.”

Ihren hohen Zulauf verdankt die PJD offenbar vor allem ihren jüngsten wirtschaftspolitischen Ansätzen wie der geforderten Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent, was gerade bei der armen Bevölkerung Marokkos auf Gehör stieß. Doch die allgemein nüchterne Atmosphäre im Land ist bezeichnend für das vermeintlich positive Echo, das sich Beobachter von der Wahl in Marokko für die gesamte arabische Welt erhofft hatten. Viele Menschen in Marokko fühlen sich von den Parteien nicht vertreten, zumal in einer konstitutionellen Monarchie, die dem König weiterhin großzügige Rechte einräumt.

Die PJD ist zwar bereits seit 1997 im Parlament vertreten (damals noch unter dem Kürzel MPCD), verdankt ihren sprunghaften Stimmzuwachs jedoch nicht unwesentlich dem Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung. Bislang galt die Karriere in der Politik für viele Menschen in Marokko als reiner Selbstbedienungsladen. Mit der Aussicht auf „echten Wandel“, wie ihn die PJD im Wahlkampf versprach, konnte sich die Partei beliebt machen.

Analyst Mounir Ferram spricht angesichts der Erwartungshaltung in der Bevölkerung gar von einem „politischen Elektroschock“, den das Wahlergebnis auf die marokkanische Politik auslösen könne. Auch die PJD mit ihrer islamischen Referenz müsse sich nun in der Realpolitik beweisen und sich den harten Problemen der marokkanischen Gesellschaft stellen.

Sollte sich der Eindruck sauberer Wahlen bestätigen, sehen nicht wenige Beobachter den marokkanischen Demokratisierungsprozess dennoch als impulsgebend für die gesamte Region an. Trotz der nachwievor gesonderten Stellung der Monarchie hoffen viele auf eine allmähliche Institutionalisierung bürgerlicher Mitsprache.

Das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Rabat: Wie sich die Abgeordneten in ihrer Funktion als Volksvertreter gegen die Zwänge der Monarchie durchzusetzen wissen, gilt abzuwarten.

Das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Rabat: Wie sich die Abgeordneten in ihrer Funktion als Volksvertreter gegen die Zwänge der Monarchie durchzusetzen wissen, gilt abzuwarten.

Berichte über Unregelmäßigkeiten bei der Wahl am Freitag lagen seitens der internationalen Beobachter bislang nicht vor. Trotzdem bleiben Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit der nun gewählten Volksvertretung. Nicht zuletzt die anhaltenden Proteste gegen die bleibende Dominanz des Königs und der damit einhergehende Aufruf zum Boykott der Wahlen verdeutlichen, welchen Weg die marokkanische Gesellschaft nach jahrzehntelanger Abstinenz von politischer Mitbestimmung noch vor sich hat. Wenngleich sich die Monarchie nach außen hin zu öffnen scheint und angesichts des öffentlichen Drucks gelobt, politische Freiräume zu schaffen, fühlen sich große Teile der Bevölkerung nicht zuletzt auf Grund ihrer wirtschaftlichen Misere nachwievor unmündig.

Ein Sprecher des regierungskritischen February 20th Movement, das neben der führenden Rolle während der Proteste zu Beginn des Jahres zuletzt mit anderen zum Wahlboykott aufgerufen hatte, schilderte nach Bekanntwerden der ersten vorläufigen Ergebnisse seine Sicht der Dinge. Demokratie könne erste dann beginnen, „wenn der König sich von der Ebene politischer Entscheidungen verabschiede.“

 

* Bei der Besetzung des Repräsentantenhauses sind weitere 60 Sitze Frauen und zusätzlich 30 für Abgeordnete unter 40 Jahren vorbehalten, die über die gesonderte sogenannte nationale Liste gewählt werden. Die zweite Kammer des marokkanischen Parlaments ist der Senat (Majlis al-Mustasharin), dessen Mitglieder in einer separaten Wahl von verschiedenen lokalen und regionalen Räten sowie Arbeitgeberverbänden bestimmt werden.

** Wahlberechtigt sind in Marokko Menschen ab dem 21 Lebensjahr.

 

Mehr zu diesem Thema:

Dr. Muqtedar Khan, über die Angst des Westens vor sogenannten islamistischen  Parteien und der Notwendigkeit realpolitischer Anpassung: „Moroccan Elections – A Barometer of Reform?“

eufrika.org: Parlamentswahlen in Marokko: “Ich boykottiere, also bin ich”

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Marius Münstermann is based in Berlin where he works as a freelance journalist. Marius serves as editor-in-chief at eufrika.org.

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