Protest in Istanbul, Tag 15: Taksim steht unter Beschuss

Tuesday 11th, June 2013 / 19:10 Written by

 

Der Taksim-Platz ist in den frühen Morgenstunden von dichten Tränengaswolken verhangen. © OccupyGezi

Der Taksim-Platz ist in den frühen Morgenstunden von dichten Tränengaswolken verhangen. © OccupyGezi

Nach einigen Tagen der Ruhe kam es am Dienstag Morgen für die Menschen auf İstanbuls Taksim Platz zu einem bösen Erwachen.

Twitter und Facebook, die Nachrichtenwebsites, Anrufe von besorgten Freunden: Alle sprachen nur davon, dass die Polizeigewalt in der Stadt von Neuem begonnen hat. Ehrlich gesagt, so eine richtige Überraschung war es nicht, denn dass Gezi Parkı unangerührt bleiben würde nachdem der Präsident vom “Ende der Geduld” sprach, das hatten nur die grössten Idealisten geglaubt, wenngleich vor dem Wochenende angekündigt wurde, dass bis Montag keine Polizeintervention stattfinden würde.

Im Park war dennoch schon Montag Abend zu spüren, dass die Spannung stieg, aber bis Dienstag Morgen blieb es friedlich. Nachdem die Polizei in den frühen Morgenstunden wieder in Taksim eingerückt war und sich mit (angeblichen) Demonstrierenden ein morgendliches Gefecht, inklusive Molotov-Cocktails, Tränengas und Gummigeschossen lieferte, will auch ich sehen, was in Taksim los ist. Am Nachmittag mache ich mich mit meinem Freund auf den Fußweg ins angeschlagene Zentrum des Widerstands. Unterwegs klingelt mein Handy, eine Freundin meldet sich. Sie ist Anwältin und berichtet, dass im Gericht gerade zahlreiche Kolleg_innen festgenommen wurden, die die Proteste unterstützt hatten.

© Almut Dieden

© Almut Dieden

Als wir uns dem Taksim nähern, fällt mir auf, dass die ehemals quergestellten Busse zur Seite geschoben wurden, die Strasse ist mehr oder minder frei. Kaum sind wir angekommen im Gezi Parkı, ertönt von irgendwo im Umfeld des Parkes ein Knall, schnell folgen weitere. Die umstehenden Gebäude senden trügerische Echos, die es schwer machen, den Ursprungsort der Schüsse zu identifizieren. Schwach steigt mir der Geruch von Tränengas in die Nase, also schnell die Schwimmbrillen und Gasmasken ausgepackt. Nicht schnell genug, denn schon Sekunden später landen die Tränengasbomben direkt vor unseren Füßen, wir rennen aus dem Park auf den Platz. Meine Beine sind weich, die Hände zittern, das Herz schlägt im Zeit-Raffer. Ich möchte keine Angst haben, aber mein Körper spricht eine andere Sprache. Auf einem verlassenen Tisch steht eine Flasche mit weiss-milchiger Flüssigkeit, Magenmedizin gegen Sodbrennen, die nun das Brennen des Trämengases in den Augen lindert. Das Chaos auf dem Platz legt sich bald, die Bulldozer räumen weiter Barrikaden aus dem Weg. Die vielen Pavillons und Fahnen der Protest-Gruppen auf dem Taksim-Platz sind größtenteils schon abgenommen, ebenso die großen Banner am Atatürk-Kulturzentrum. Irgendwie erinnert mich die Szenerie an ein Schlachtfeld nach dem Kampf, auf dem Boden liegen Steine, Müll, Überreste der Pavillons der früheren Besetzer.
Die Großbaustelle am Rande des Platzes ist wieder unzugänglich. Die mangelnden Absperrzäune werden durch gelegentliche Schüsse mit Wasserwerfern und Tränengas in Richtung Gezi Parkı und Taksim-Platz ersetzt, auch das hält Menschen fern von dem Baustellengelände.

Wir stehen und beobachten. Ein junger Mann neben mir, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt, ergreift einen Stein und wirft auf das Gelände, sein Stein landet in der grossen Leere zwischen Polizei und Demonstrierenden. Kurz darauf kommen zwei Männer an, die noch kurz zuvor mit uns gerufen und gepfiffen haben, wenn erneut eine Tränengasbombe geschossen wurde. Sie ergreifen den jungen Mann und zerren ihn fort, fort zu einer Gruppe uniformierter Polizisten im Schatten des Atatürk-Denkmals. Zivilpolizisten also. Wir rennen dorthin um zu sehen was passiert, die Polizisten treten auf den Jungen ein, fünfzehn Mann gegen einen. Ich sehe, wie ein Zivilpolizist seinen Fuss auf dem Kopf des Jungen platziert, andere schlagen weiter ein, dann kommen weitere hinzu, die sich um die Szene stellen um die Kollegen vor Blicken und Videokameras zu schützen. Wir stehen da und können nichts tun, nur zuschauen und rufen und Videos machen und verzweifeln. Der Krankenwagen kommt, nimmt den bewusstlosen Mann mit. Ein Polizist redet mit der aufgebrachten Menge, ich kann nur Satzfetzen hören, aber recht deutlich ist seine wiederholte Aussage zu vernehmen: “Der junge Mann war wohl ein Provokateur und Terrorist”. So sieht die klassische Festnahme in İstanbul in diesen Tagen aus, dies ist kein Einzelfall.

Polizisten am Atatürk-Denkmahl auf dem Taksim-Platz schirmen eine Festnahme gegen Kameras ab. © Almut Dieden

Polizisten am Atatürk-Denkmahl auf dem Taksim-Platz schirmen eine Festnahme gegen Kameras ab. © Almut Dieden

Eine Weile beobachte ich das Geschehen. Immer wieder sind Männer ohne Uniform im Kreise der Uniformierten zu sehen, kurz darauf tauchen diese wieder unter zwischen Demonstrierenden und Passanten und wettern gegen die Polizei, heizen die Stimmung auf. Ohnehin, die Stimmung ist gereizt, Aggressivität ist zu spüren, die Spannung immens. Ein Wasserwerfer-Fahrzeug (TOMA) neben uns bringt sich in Position und richtet seine Front auf die Menschen auf dem Platz, auch an anderen Ecken, so bemerke ich, bewegt sich etwas. Eine weitere Hundertschaft marschiert unmittelbar an uns vorbei, nur zwei Meter von mir entfernt marschieren sie, und in den Augen ist Kampfbereitschaft zu lesen. Es wird mir zuviel, hier braut sich etwas zusammen. Der Platz kann leicht zum Kessel werden, man sollte immer einen Fluchtweg im Hinterkopf haben. Ich werde immer nervöser, also laufen wir in Richtung İstiklal-Strasse, mein Herz klopft noch immer, ich brauche eine Pause.

Fünf Gehminuten später sind wir in ruhigen Seitenstrassen angekommen. Das Leben hier geht seinen alltäglichsten Gang. Taksim-Platz scheint Meilen entfernt. Doch die Gasmaske und Taucherbrille in meiner Hand dienen als materielle Erinnerung an das, was in den letzten zwei Wochen für viele in der Türkei zu einer neuen Alltäglichkeit geworden ist.


Ein Video mit Zusammenschnitten vom Morgen:

Aufnahmen, die die Festnahme der Anwält_innen zeigen:

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About the author

Almut Dieden is a student of anthropology and communication science from Berlin. She currently lives in Istanbul where she will soon start her internship with German broadcaster ARD. She covers the events every day, talks to people and will share her impressions on eufrika.org

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