Protest in Istanbul, Tag 6: „Günaydın“ (Guten Morgen) aus Beşiktaş
An diesem Morgen vor meinem Haus in Beşiktaş, nur wenige Gehminuten entfernt von dort, wo in den letzten Nächten Demonstrant_innen und Polizei gewaltsam aufeinander trafen, ist Normalität zu spüren. Ladenbesitzer preisen ihre Waren an, nur dass neuerdings Taucherbrillen in den vordersten Reihen des Angebots liegen, Taucherbrillen, die die Augen der Demonstrant_innen nachts vor Tränengasattacken schützen.
Der Stadtteil Beşiktaş ist eines der Epizentren der Proteste in Istanbul, denn hier liegt der Amtssitz des Ministerpräsidenten Erdoğan. Hier ist das Büro des Fernsehsenders Halk-TV, der zu Beginn der Proteste der einzige türkische Fernsehsender war, der ausführlich berichtete. Hier versammelten sich an den vergangenen Abenden Anhänger des Fanclubs des Fußballclubs „ Beşiktaş JK“ um gemeinsam zu protestieren. Nachts entwickelt sich das Viertel zur Kampfzone – tagsüber geht alles den gewohnten Gang, mit ein paar Auffälligkeiten. Nahe der Anlegestelle stehen einige Sonderbusse des öffentlichen Verkehrsmittel-Betreibers, in denen sich Polizist_innen ausruhen. An ein paar Wänden sind Graffiti zu lesen, wie „Tayyip istifa“ (Tayyip, Rücktritt) oder „Taksim her yerde!“ (Taksim ist überall!). Und das häufigst genannte Wort, das ich aus Gesprächsfetzen der Passanten heraushöre, ist „biber gazı”, Tränengas. Ansonsten geht alles seinen gewohnten Gang.
Auch in den letzten Tagen war hier tagsüber Normalität zu spüren. Die Tage gehören Gezi Parkı in Taksim, den sich die Menschen auf kreative Weise aneignen. Yoga, eine kleine Bibliothek, Essensstände, ein klassisches Konzert, tanzende Derwische, künstlerische Darbietungen… die Stimmung ist ausgelassen, es gleicht einem Festival. Der Rest von Istanbul kehrt tagsüber in den Alltag zurück. Bis die Nacht beginnt.
Auch der gestrige Abend, wie jeder Abend seit Beginn der Proteste in Istanbul, wurde um 21:00 eingeläutet durch die lautstarke Unterstützung all derer, die zu Hause geblieben sind. In der ganzen Stadt treten Menschen an Fenster und Balkone, schlagen auf Töpfe und schalten die Lichter in ihren Häusern an und ab. Die ganze Stadt wird zu einem unüberhörbaren, polyphonen Orchester des Klangs und der Lichter, mit einer zentralen Botschaft: „Wir alle sind gemeinsam hier, auch wenn ihr uns nicht auf der Straße seht, wir sind hier und unterstützen die Proteste.”