Protest in Istanbul, Tag 9: Es gibt “Simit” und Occupy-Masken für Alle
Mittags mache ich mich auf von Beşiktaş in Richtung Gezi Park, Taksim Platz. Busse fahren nicht, alle Zufahrtswege zum Platz sind noch immer mit Barrikaden abgeriegelt, die die Demonstrierenden hier in den letzten Tagen errichtet haben. Die Barrikaden, das sind quergestellte Busse mit eingeschlagenen Fensterscheiben, das sind ehemalige Absperrungszäune von Baustellen, Müllcontainer, Holzpaletten, Straßenschilder, Pflastersteine. Das Zentrum Taksims ist nun das Revier der Fußgänger…
Schon am Eingang des Parks warten Straßenhändler auf Kundschaft, im Angebot sind Türkei-Fahnen, Trillerpfeifen, Guy-Fawkes-Masken, Taucherbrillen, Stirnbänder mit Atatürk-Motiv. Ein großer Banner weist Ankommende darauf hin, wo sie gerade ankommen: „Direnişimizin 9. günü” – am 9. Tag unseres Widerstandes. Im Park sitzen Grüppchen von Menschen auf aufgefaltetem Zeitungspapier und Picknickdecken zwischen Zelten, es wird gelesen, diskutiert, geschlafen, musiziert, gelacht, für Prüfungen gelernt. Manch einer ist mit dem Handy beschäftigt, dem wichtigsten Kommunikationsmittel zwischen Park und dem Rest der Welt. Um diese Uhrzeit sind vor allem junge Erwachsene zu sehen, aber auch Kleinkinder und Senioren finden ihren Platz im Getümmel. Nach ein paar Metern komme ich zu einem großen Zelt, betitelt „sivil inisiyatif“, zivile Initiative. Im inneren erspähe ich Berge von Trinkwasser, Medikamente, Tüten voll mit Lebensmitteln.
Immer wieder kommen Menschen mit neuen Tüten, Spenden für die Proteste, die dann von Freiwilligen in Gummihandschuhen sortiert werden und auf Ständen überall im Park verteilt werden. Jeder und jede kann sich hier kostenlos mit allem eindecken, was gerade benötigt wird. Zitronen, Flaschen mit Essig und Lösungen gegen Magenbeschwerden stehen bereit, um im Falle einer Tränengasattacke die Augen der Betroffenen zu versorgen. Eine steinerne Wand im Zentrum des Parks bietet ebenso Versorgungsgüter für alle, darüber hängt ein großer Banner „Tayyip istifa“ – Rücktritt Tayyip. Sogar ein Karton mit Socken jeder Größe wartet auf kalte Füße.
Manche Bäume sind mit bunten Stofffetzen geschmückt, jedes Stück Stoff steht für einen Wunsch von der Person, die den Stoff an den Baum gebunden hat. Wünsche an Bäume zu binden ist ein Brauch, der vom Balkan bis nach Zenralasien weit verbreitet ist. Mülltüten an jeder Ecke sorgen dafür, dass der Park sauber bleibt. Tierfutter liegt aus, damit auch Hunde und Katzen sich im Park willkommen fühlen. Plakate erinnern an Abdullah Cömert, der im Zuge der Proteste sein Leben verlor. Daneben wurden Pläne des Parks angebracht, auf denen Versorgungszentren, Toiletten und Erste-Hilfe-Zelte markiert sind. Banner der „Antikapitalistischen Moslems“ hängen neben Bildern von Anonymous und Zitaten von John Lennon, daneben die Regenbogenfahnen der LGBTT-Gruppen. Es scheint, als fänden hier auch alle die einen Ort im Zentrum des Geschehens, die sonst eher Randgruppen der Gesellschaft sind.
In einer Ecke des Parks tummeln sich Menschen um die aus losen Steinen errichtete Bücherei “Çapulcu Kütüphane“ (der Ausdruck “çapulcu“, auf Deutsch “Marodeure“, wurde von Ministerpräsident Erdoğan geprägt, der in einer Rede die Demonstrierenden als solche bezeichnete. Auf humorvolle Weise nahm die Protestbewegung den Ausdruck an und viele sagen nun mit Stolz: “Ich bin ein çapulcu!“). Auch hier kommen unentwegt neue Spenden an, von Privatleuten und Buchläden. Inzwischen ist in den steinernen Regalen kein Platz mehr, also werden neu ankommende Bücher sofort weiterverteilt. Die Stimmung gleicht einer Auktion, nur verlangt hier niemand Geld für das Ersteigerte.
Da an diesem Mittwoch der muslimische Feiertag “Miraç Kandil“ gefeiert wird, ist heute aus Respekt gegenüber allen muslimischen Protestteilnehmer_innen Alkohol im ganzen Park nicht willkommen. Und tatsächlich, weder tags noch nachts sehe ich Alkohol im ganzen Areal. Dafür gibt es Unmengen an „Kandil Simidi“, kleinen Sesamkringeln die speziell an diesem Feiertag verteilt werden. Ich beobachte einen Jugendlichen, der mit Guy-Fawkes-Maske und Fußballschal umherspringt und allen eine Schachtel mit Gebäck entgegenstreckt. Irgendwann drückt mir ein zahnlos lächelnder, alter Mann eine kleine Box mit Simit in die Hand und zeigt auf die Menge, also fange auch ich an mit meiner Schachtel in der Hand herumzulaufen und das kleine herzhafte Gebäck zu verteilen.
Der Abend nähert sich, der Park füllt sich. Auch immer mehr Anzugträger mischen sich in die Menge. Die Stimmung erinnert mich an ein Festival, überall wird getanzt und es tönt Musik, immer wieder ertönen lautstarke Rufe wie „Faşizme karşı omuz omuza!” (Schulter an Schulter gegen Faschismus!). Ich setze mich ein Weilchen zu dem Kollektiv der Feministinnen. Tanze bisschen Folklore im Kreis. Lausche einem Gitarren-Konzert. Dann wird es mir im Park zu voll, man kann sich nur im Schneckentempo fortbewegen, und geselle mich zu ein paar Freunden, die am Parkrand auf den Treppenstufen eines Wohnhauses das Geschehen beobachten. In einem sind sie sich einig: So etwas hat es hier in ihrem Land noch nie gegeben.
Mehr Fotos finden sich auf der Facebook-Seite der Aurorin, hier.