Serie “Die Parteienlandschaft Tunesiens”: Die Partei Ettakatol

Wednesday 04th, January 2012 / 20:46 Written by

 Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Tunesien. Seine Tat löste Massenunruhen im ganzen Land aus, die unter dem Namen der Jasminrevolution den seit 23 Jahren diktatorisch regierenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali in weniger als einem Monat stürzten. Bald darauf sprang der  revolutionäre Funke auf weitere arabische Länder über. Am 22. November nahm die Nationalversammlung in Tunis ihre Arbeit auf. Mehr als elf Parteien sollen in Tunesien eine Verfassung ausarbeiten und damit über die Zukunft des Landes entscheiden – womöglich erneut mit Vorbildcharakter für die politische Neuausrichtung in den Nachbarstaaten.

Doch wer sind diese Parteien? In dieser Serie will eufrika.org sie vorstellen und damit die Konstitutionalisierung des politischen Wandels in Nordafrika begleiten.

 

Weitere Artikel aus dieser Serie: Die Bewegung Ennahda


2. Die Partei Ettakatol

 

Ettakatol steht zwischen den Stühlen. Während andere progressive Parteien zur Geschlossenheit als starke Opposition aufrufen, liebäugelt das sozialdemokratische Forum mit der Macht und verhandelt mit der konservativen Ennahda. Dabei läuft es Gefahr, langjährige Ideale und wichtige soziale Ziele aufzugeben.

 

Eckdaten:

Gründung: 09.04.1994

Legalisierung: 25.10.2002

Gründer: Mustapha Ben Jaafar

Anteil an Sitzen in Nationalversammlung: 9,2%

Politische Ausrichtung verkürzt: sozialdemokratisch, säkular

 

Geschichte 1994 – 2011

Mustapha Ben Jaafar

Mustapha Ben Jaafar 2011 als Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung

Die Geschichte der Partei Ettakatol, auch Forum Démocratique pour le Travail et les Libertés (FDTL), spielt sich zweifellos auf dem Rücken ihres Generalsekretärs Mustapha Ben Jaafar ab. 1994 gründet der studierte Arzt und Radiologe das Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit und wird von nun an eine Schlüsselrolle innerhalb der Partei einnehmen.

Schon damals liegen Jahrzehnte des politischen Engagements hinter dem heute 71-jährigen. So war er unter anderem beteiligt an der Gründung der Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme (Tunesische Menschenrechtsliga), des Conseil des Libertés und dem Mouvement des Démocrates Socialistes (MDS). Als Mitglied des Gewerkschaftsdachverbands Union Générale Tunisienne du Travail war er ebenso Teil der ersten gewerkschaftlichen Opposition des Landes. Diese Erfahrungen waren es, die ihn für das politische Geschäft formten, ihn zu einer Hand aus Stahl in einem seidenen Handschuh machten, wie es einer seiner Kollegen unlängst ausdrückte. Zu seinen Vorbildern zählt er Willy Brandt und Bruno Kreisky.

Sein Leben steht im Zeichen des Widerstands gegen das System Ben Ali. So verlässt er 1992 die von ihm mitgegründete MDS, weil die Bewegung zu sehr mit dem Regime zusammenarbeite. Nach acht Jahren kommt es 2002 schließlich zur Legalisierung der Partei. Angesichts der bleibenden Auflagen und Repressionen bedeutet dies jedoch keineswegs politischer Handlungsfähigkeit. Als Ben Jaafar sich 2009 für das Präsidentenamt aufstellen lassen will, verwehrt man ihm die Teilnahme an der Wahl.

Seit dem Ausbruch der Revolution mausert sich die Partei zu einem der Hauptrepräsentanten des Mitte-Links-Lagers. Am 17. Januar nimmt Ben Jaafar das Amt des Gesundheitsministers der Interimsregierung an, tritt jedoch schon zehn Tage später zurück, aus Protest gegen den nach wie vor bestehenden Einfluss der Ben Ali-Partei Rassemblement Constitutionel Démocratique (RCD).

Die Wahlen vom 23. Oktober schließlich sind von Erfolg gekrönt. Mit 20 der 217 Sitze geht die Partei als viertstärkste politische Kraft des Landes aus der Abstimmung hervor und begibt sich in Koalitionsgespräche mit Ennahda und dem Kongress für die Republik (CPR). Einen Monat später, am 22. November, spricht sich die Verfassungsgebende Versammlung mit überwältigenden 147 Stimmen für Ben Jaafar als ihren neuen Präsidenten aus. Auf diese Weise endgültig in der Öffentlichkeit angelangt, erlebt die Partei nach eigener Aussage einen Mitgliederzuwachs von etwa 1000 Personen pro Woche.

Doch die Koalitionsverhandlungen erweisen sich als spannungsreich. Die Kooperation des Mitte-Links-Forums mit der stärksten Partei, der konservativen Ennahda, ist nicht ohne erhebliche Eingeständnisse zu machen. Als Ennahda-Politiker Jebali schließlich öffentlich von einem sechsten Kalifat spricht, zieht sich Ettakatol aus den gemeinsamen Ausschüssen für politische und soziale Reformen mit Ennahdha und CPR zurück. Im Folgenden ist für einige Zeit unklar, ob die Koalitionsverhandlungen weiterlaufen werden oder nicht. Öffentlich widerspricht sich die Partei in ihren Aussagen.

Dass die Partei keineswegs stabil ist, zeigt auch der kollektive Rücktritt von 65 Mitgliedern des Parteibüros Mitte Dezember. Einer der Abgetretenen erklärt dem Radiosender Mosaïque FM, es handele sich dabei um eine Reaktion auf die zunehmende Abkoppelung der Parteiführung von den restlichen Mitgliedern des Parteibüros seit den Wahlen vom 23. Oktober.

Die Bereitschaft zu einer Koalition mit der Ennahda hat von vielen Seiten kritische Stimmen heraufbeschworen. Vor allem der Rest des Mitte-Links-Lagers beklagt der vermeintlichen Verlust der Ettakatol für ihre Sache. So prangerte Samir Bettaieb, Mitglied von Ettajdid, einem mitte-linkem Parteienbündnis, in einem Gespräch mit Le Temps den Bruch der Allianz mit Ettakatol an. Vor allem die Frage nach den Rechten der Frauen droht unter dem Einfluss der konservativen Parteien unterzugehen. Etwas resigniert kommt die Bloggerin Sarah Ben Hamadi daher zu dem Schluss:

Dieser Regierung geht es nicht um nationale Interessen. Ben Jaafar will an die Macht.”

Nach den neuesten Verhandlungen will Ettaktol sich nun tatsächlich an der kommenden Regierung beteiligen und soll vier der insgesamt 25 Ministerposten besetzen. Dabei handelt es sich voraussichtlich um die Ressorts Tourismus, Bildung, Finanzen und Soziales.

 

Politische Ausrichtung

Innerhalb des tunesischen Parteienspektrums findet man die Partei in den progressiveren Gefilden. Dem Selbstverständnis nach sozialdemokratisch und säkular, stehen sie für eine fortschrittliche Alternative zu konservativen Parteien wie der Ennahda. Seit längerem steht sie als einzige tunesische Partei in enger Verbindung mit der Sozialistischen Internationalen. Neben Kernpunkten wie der staatlichen Regulierung der Wirtschaft und der Trennung von Staat und Religion ist für viele Wähler auch der Einsatz für Frauenrechte ein wichtiges Merkmal der an sozialer Gleichheit orientierten Agenda.

Ihr aktuelles Parteiprogramm formuliert sechs Hauptziele, aus denen sich alle anderen ableiten. Neben der Schaffung einer neuen Verfassung und einer reformierten Außenpolitik sollen vor allem die Errichtung eines Rechtsstaates, eine solidere und solidarischere Wirtschaft, eine menschenwürdige und gerechte Gesellschaft sowie ein harmonisches und bürgerliches Zusammenleben im Fokus der politischen Bemühungen liegen.

Konkret bedeuten diese Punkte für das Forum unter anderem einen Ausbau der unter Ben Ali so vermissten Transparenz der Staatsgeschäfte, eine Stärkung der Rolle des Militärs zum Zwecke der nationalen Sicherheit oder eben den Einsatz für Frauenrechte, beispielsweise beim Thema Erbrecht oder ehelicher Vergewaltigung. Trotz der Präsenz der Geschlechterfrage sind weibliche Kandidaten auf der Liste der Partei allerdings eher spärlich repräsentiert.

Außenpolitisch steht vor allem die Integration des nordafrikanischen Raums im Vordergrund. Angesprochen wird unter anderem die Idee eines maghrebinischen Parlamentes. Darüber hinaus soll insbesondere die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union verstärkt werden. Bezüglich der Verfassungsfrage kündigte die Partei vor der Wahl an, ein moderates präsidentielles Regierungssystem anzustreben, in dem der Präsident über alleinige Entscheidungskompetenz verfügt und der Ministerpräsident durch das Parlament gewählt wird.

Angesichts des Unmuts, den ihre säkulare Orientierung vielerorts hervorruft, wird die Partei nicht müde zu betonen, dass sie keine antiislamische Politik betreibe. Die Trennung von Staat und Religion sei in erster Linie ein Resultat der Religionsfreiheit. Dem Status des Islams als Staatsreligion solle dies keinen Abbruch tun.

Welche Folgen die anvisierte Koalition für die Ausrichtung der Partei haben wird, bleibt schwer abzuschätzen. Dass es sich um ein problematisches Bündnis handelt, steht jedoch fest. Während beispielsweise die Ennahda konsequent auf eine wirtschaftsliberale Politik setzt, sprechen sich Ettakatol und auch der Kongress für die Republik (CPR) explizit dagegen aus. Wer sich wie stark auf wen zubewegen wird, bleibt abzusehen. Doch scheint es, als würden Kritiker einer neoliberalen Wirtschaftspolitik sowie Frauenrechtler derzeit zu Recht mit Unbehagen auf die Entwicklungen innerhalb des Forums blicken.

Über Ben Jaafar wurde einmal gesagt, sein Geschick im Dialog und seine Manieren hätten ihn zwar vor Ben Ali’s Gefängnissen bewahrt, von seinen Grundsätzen sei er allerdings nie auch nur einen Zentimeter zurückgewichen. Ob er, nach einem Leben in der Opposition, diese Prinzipientreue nun im Angesicht der greifbaren Macht weiterhin an den Tag legen kann und will, wird die Zukunft zeigen.

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