Serie “Die Parteienlandschaft Tunesiens”: Die Bewegung Ennahda
Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Tunesien. Seine Tat löste Massenunruhen im ganzen Land aus, die unter dem Namen der Jasminrevolution den seit 23 Jahren diktatorisch regierenden Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali in weniger als einem Monat stürzten. Bald darauf sprang der revolutionäre Funke auf weitere arabische Länder über. Am 22. November nahm die Nationalversammlung in Tunis ihre Arbeit auf. Mehr als elf Parteien sollen in Tunesien eine Verfassung ausarbeiten und damit über die Zukunft des Landes entscheiden – womöglich erneut mit Vorbildcharakter für die politische Neuausrichtung in den Nachbarstaaten.
Doch wer sind diese Parteien? In dieser Serie will eufrika.org sie vorstellen und damit die Konstitutionalisierung des politischen Wandels in Nordafrika begleiten.
1. Die Bewegung Ennahda
30 Jahre oppositionelle Arbeit unter zum Teil tödlichen Repressionen, in den selben Artikeln mal als islamistisch, mal als islamisch bezeichnet, provozierte die „Bewegung Ennahda“ mit dem Sieg bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung in Tunesien teils gewalttätige Proteste. Mit Sicherheit ist die Partei von Gründer Rached Ghannouchi als stärkste Fraktion auch der Gegenstand der größten Kontroversen in Tunesien und dem Rest der Welt.
Eckdaten:
Gründung: 06.06.1981 als “Mouvement de la tendance islamique” (MTI)
Legalisierung: 01.03.2011
Gründer: Rached Ghannouchi
Anteil an Sitzen in Nationalversammlung: 41%
Politische Ausrichtung verkürzt: Moderat-islamische Tendenzen, wirtschaftliberale Führung; stark heterogene Basis
Geschichte 1981-2011
1981 gründen Rached Ghannouchi und Abdelfattah Mourou im säkular-autoritären Tunesien, inspiriert von den Muslimbrüdern in Ägypten, das „Mouvement de la tendance islamique“ (MTI, de: Bewegung der islamischen Strömung). Die Anerkennung als Partei wird jedoch vom Innenministerium verweigert. Noch im selben Jahr werden im Zuge eines der Großen Prozesse 107 Mitglieder zu Haftstrafen verurteilt, Rached Ghannouchi bekommt elf Jahre. Folter in den Gefängnissen ist schon damals bis zum Sturz Ben Alis üblich. Die Verurteilten verbringen bis zur Amnestie 1984 allerdings „nur“ drei Jahre in Haft.
Das Engagement der Bewegung in inoffizieller Opposition wird fortgeführt und 1987 verkündet ein Vertreter in Frankreich, Habib Mokni, Demokratie, Menschenrechte und Gewaltfreiheit als Grundlagen Ennahdas, betont jedoch schon damals, dass die Basis fragmentiert sei und auch extremere Positionen vertreten werden.
Noch im selben Jahr beschuldigt das Regime Mitglieder der Bewegung, Attentate in Sousse und Monastir durchgeführt zu haben, und verurteilt sieben von ihnen zu Tode. Das Urteil wird an den einzigen zwei Inhaftierten am 8. Oktober vollstreckt. Zu dem Zeitpunkt ist Zine el-Abidine Ben Ali bereits Präsident geworden, und die Hoffnungen groß, dass die Repression unter ihm zurückgeht.
Für die Parlamentswahlen 1989 benennt sich die MTI in die „Bewegung En-Nahda“ (de.: der Renaissance/Wiedergeburt) um, um dem säkularen Staatsgedanken Rechnung zu tragen. Dennoch wird sie nicht zugelassen und die Repressionen verstärken sich derart, dass Rached Ghannouchi nach London ins Exil flieht. Er hinterlässt eine inoffizielle Partei, deren Popularität auch wegen der Repressionen eine feste Größe in der Politik Tunesiens geworden ist.
Mit Ghannouchi im Exil beginnt für die Bewegung die Zeit, in der sie den Grundstein für ihre Kontroversität legt. 1991 solidarisieren sich in Demonstrationen eine Vielzahl von ihnen mit dem Irak im Golfkrieg und bezahlen mit zum Teil lebenslangen Haftstrafen. Im gleichen Jahr begehen Mitglieder der Ennahda einen Brandanschlag mit einem Toten auf ein Büro der regierenden Partei „Rassemblement constitutionnel démocratique“ (RCD). Dies sollte der einzige Gewaltakt bleiben.
Daraufhin folgte eine Art Zeit des Schocks, in der die Bewegung eher passiv bleibt, viele führende Parteimitglieder folgen Ghannouchi ins Exil. Erst 14 Jahre später bildet Ennahda zusammen unter anderen mit der Parti Démocrate Progressiste (PDP) und der Parti Communiste des Ovriers de Tunisie (PCOT) das „comité du 18 octobre“ für die Restauration der Bürgerrechte. 2008, drei Jahre vor dem Sturz Ben Alis, werden schließlich die letzten politischen Gefangen aus den Reihen der Partei freigelassen.
Am 14. Januar tritt der diktatorisch regierende Ben Ali aufgrund weitreichender Proteste zurück und verlässt fluchtartig das Land. Zwei Wochen später kehrt Rached Ghannouchi nach zwanzig Jahren in die Heimat zurück und baut zusammen mit Hamadi Jebali und Samir Dilou neue Parteistrukturen auf: Jebali als Generalsekretär, Dilou als Sprecher und Ghannouchi als Präsident. Gleich bei der Ankunft verkündet dieser jedoch, keine Staatsämter übernehmen zu wollen. „Die Revolution gehört denen, die noch schwarzes Haar haben“ meint der 70-Jährige, und tatsächlich soll zukünftig Jebali Premierminister werden. Am ersten März 2011 wird Ennahda offiziell als Partei anerkannt.
Politische Positionierung
Gegründet nach dem Vorbild der Muslimbrüder als „Bewegung der islamischen Strömung“, liegen die Wurzeln der Partei in islamisch motivierter Politik. Doch schon 1987 erklärt die Partei, was Rached Ghannouchi noch am Montag nicht müde wurde, auf Welt-Online zu verdeutlichen:
Wir haben keine Kirchenspitze mit Deutungshoheit, deshalb gibt es viele Auslegungen und Strömungen. Wir glauben an einen Islam, der mit Demokratie und Freiheit vereinbar ist.
Doch offensichtlich trauen viele Tunesier diesen Aussagen nicht, denn direkt nach der Bekanntgabe des Wahlsieges der Ennahda, kam es zu großen, teils gewalttätigen Protesten vor allem in Sidi Bouzid. In Tunis hingegen konnten auch Jubel und Hupkonzerte vernommen werden.
Ebenso ambivaltent zeigt sich die New York Times, die im selben Artikel die Partei mal als „islamisch“, mal als „islamistisch“ bezeichnet. Der im wörtlichen Sinne fundamentale Unterschied scheint nicht bekannt zu sein. Bei Welt-Online scheint man sich hingegen sicher zu sein, in der stärksten Fraktion der tunesischen Nationalversammlung eine islamistische Partei zu erkennen. Eine Videounterschrift auf der Internetseite lautet:
Islamisten erklären sich zum Wahlsieger.
Seitens der Betroffenen liest sich die Darstellung allerdings anders: Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk betont der offizielle Sprecher Ennahdas, Samir Dilou, dass sie keine islamistische, sondern eine islamische Partei sei. Im gleichen Zug vergleicht Dilou daraufhin Ennahda mit der Christlich-Demokratischen Union (CDU) Deutschlands. Auch zu anderen Gelegenheiten weisen Repräsentanten der Partei oft auf Erdoğans AKP oder Merkels CDU als Vorbilder hin. Denn spätestens seit dem Comité du 18 Octobre im Jahr 2005 vertritt die Partei offiziell die Trennung von Staat und Religion, ebenso Religionsfreiheit und die Geschlechtergleichheit. Im Gegensatz zur deutschen CDU ist im Parteinamen seit 1989 kein religiöser Verweis mehr zu finden.
Doch Ennahda ist in der Basis zersplittert, was schon Habib Mokni 1987 selbstkritisch erklärt, und im gleichen Jahr durch den tödlichen Anschlag militanter Mitglieder bestätigt wird. So wirft Abdellatif Ghorbal in der tunesischen Zeitung „La Presse“ der Partei einen unkontrollierten „vierfach-Diskurs“ vor, in dem an einem Tag Alkoholverbot und die Verunglimpfung von ledigen Frauen und ihrer Kinder gefordert wird, um am folgenden Tag wieder dementiert zu werden. Zudem sind Sexismus und Islamismus im fundamentalistischen Sinne auch durch Ennahda-Anhänger alltägliche Phänomene in vielen Moscheen.
Die Partei präsentiert sich mit einer „reflektierten, rationalen“ Führung und einer zersplitterten Basis, die neben den moderaten auch fundamentalistischere und militantere Ansichten vereint. Ghannouchi kennt diese Vorwürfe, wenn der „geistige Ratgeber“ sagt:
Dies alles führt Abdellatif Ghorbal dazu, in Ennahda vielmehr ein „Konglomerat diverser Interessen“ als eine „verantwortliche, politische Partei“ zu sehen. Richtig ist wohl, das viel von der Entwicklung von Ennahda abhängen wird. Angesichts der vielfältigen islamischen Tendenzen innerhalb der Partei bleibt diese Entwicklung zumindest für Beobachter von außen momentan sehr schwer einzusehen.