Tunesien: Der Veteran aus der Opposition im Präsidentenamt

Wednesday 14th, December 2011 / 12:30 Written by

 

Copyright: Michael Sean Gallagher

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Tunesien hat einen neuen Präsidenten. Moncef Marzouki wurde gestern vor der verfassungsgebenden Versammlung in sein Amt eingeführt. Der langjährige Oppositionspolitiker kündigte an, als „Präsident aller Tunesier“ die Forderungen der Revolution umzusetzen. Marzouki gilt als Hoffnungsträger für die Übergangszeit bis zu den Wahlen im nächsten Jahr. Kritiker erkennen in seinen jüngsten Aufrufen zur parteiübergreifenden Zusammenarbeit dagegen Unterwürfigkeit gegenüber der stärksten politischen Kraft, Ennahda, deren Vormachtstellung nicht wenige für bedenklich halten.

Der 66jährige Marzouki blieb seinem Stil auch bei der Vereidigung treu. In grauem Jacket und weißem Hemd  – wie immer ohne Krawatte, dafür im traditionellen burnous, einem dicken Wollumhang – verspricht er mit Schwur auf den Koran, das ihm anvertraute Amt als “Garant der Revolution” zu führen. So betont Marzouki, der bereits im Januar drei Tage nach der Flucht des ehemaligen Diktators Ben Ali seine Kandidatur für Präsidentschaftswahlen angekündigt hatte, vor der verfassungesgebenden Versammlung am Dienstag:

I will be faithful to the martyrs and to the objectives of the revolution.”

Marzouki bei einer Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung in Bardo - Copyright: tab59

Marzouki bei einer Sitzung der verfassungsgebenden Versammlung in Bardo - Copyright: tab59

Er rief zur nationalen Versöhnung auf, wobei er auch explizit die Opposition zur politischen Partizipation ermutigte. Marzouki dürfte die Rolle des Statisten, die der Opposition im Tunesien unter Ben Ali über Jahrzehnte zukam, nur zu gut kennen. Nach dem Medizinstudium in Straßburg und seiner Tätigkeit als Arzt in Paris kehrte Marzouki 1979 mit 34 Jahren in die Heimat zurück. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität von Sousse gründete er im ersten Jahr seiner Rückkehr die Tunesische Menschenrechtsliga (Tunisian League for the Defence of Human Rights - LTDH), deren Präsident er 1989 wurde. Das Bündnis entwickelte sich bald zu einem der größten Widersacher des Ben Ali Regimes. Doch es kommt zum Bruch, Marzouki verlässt die Menschenrechtsliga und wirft seinen Mitstreitern vor, sich auf faule Kompromisse mit der Regierung eingelassen zu haben. In der Bevölkerung bewundert man ihn für seine Standhaftigkeit, die ihm den Ruf moralischer Kompromisslosigkeit einbringt.

Bei den Präsidentschaftswahlen 1994 bewirbt Marzouki sich um eine Kandidatur. Diese wird ohne Nennung von Gründen abgelehnt, Marzouki kommt für vier Monate ins Gefängnis und erst nach Vermittlungen durch Nelson Mandela wieder auf freien Fuß. Trotz anhaltender Repressionen seitens der Regierung lässt Marzouki sich nicht einschüchtern und gründet 1998 mit weiteren Aktivisten die Arab Commission for Human Rights. Seithet hat Manzouki sich auch als Buchautor einen Namen gemacht. Er veröffentlicht auf Französisch und Arabisch, darunter Titel wie “Diktatoren auf Bewährung: Ein demokratischer Weg für die arabische Welt”. 2002 flieht er schließlich unter dem zunehmenden Druck des Regimes ins französische Exil, bis er in den ersten Tagen der Jasminrevolution endgültig zurückkehrt.

Marzoukis vermeintliche Sturheit schlägt sich bis weilen vor allem in seinem konsequenten Einsatz für die menschliche Würde nieder. Auf der politischen Bühne sucht Marzouki dagegen durchaus den Kompromiss.

So plädiert er bereits vor seiner Ernennung für eine unvoreingenommene Sicht auf die Bewegung Ennahda, die aus den Parlamentswahlen mit Abstand als stärkste Kraft hervorgehen sollte. Den Parteien des linken Flügels, darunter auch seinem eigenen Congrès pour la République (“Kongress für die Republik” – CPR), wirft Marzouki einen Wahlkampf vor, in dem eigene Lösungsansätze für die Probleme der tunesischen Gesellschaft durch eine emotionsgeladene Kampagne gegen die vermeintlich islamistische Ennahda in den Hintergrund geraten sein.

Hamadi Jebali, Generalsekretär der Ennahda, wird in den nächsten Tagen zum Regierunschef ernannt. Doch die Opposition kritisiert die Machtfülle des Premiers - Copyright: Ennahda

Hamadi Jebali, Generalsekretär der Ennahda, wird in den nächsten Tagen zum Regierunschef ernannt. Doch die Opposition kritisiert die Machtfülle des Premiers - Copyright: Ennahda

Umso bemühter scheint Marzouki nun, das gesamte Spektrum der politischen Kräfte Tunesiens in einer “Regierung der Einheit” an einen Tisch zu bringen. Doch Kritiker werfen ihm genau das vor. Nach seiner Wahl mit 155 zu 3 Gegenstimmen wird Marzouki in einer seiner ersten Amtshandlungen den Generalsekretär der Ennahda, Hamadi Jebali, zum Regierungschef ernennen. Nach der neuen tunesischen Verfassung kommen dem Regierungschef deutlich mehr Befugnisse zu als dem Präsidenten, dessen Kompetenzen vor allem den Oberbefehl über die Armee umfassen.

Aus Angst vor einer erneuten Zentrierung der Macht zu Gunsten Ennahdas, riefen Vertreter der Doustourna-Partei im Anschluss an die Vereidigung zu einem Zusammenschluss aller oppositionellen Kräfte auf. Sie misstrauen der Kompromissbereitschaft Marzoukis und befürchten, Ennahda könnte die im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im kommenden Jahr anstehenden Verfassungsänderungen zu einer weiteren Stabilisierung ihrer derzeitigen Vormacht ausnutzen. Bei einem ersten Treffen des oppositionellen Bündnisses kamen mehrere hundert Anhänger vorrangig linker Parteien zusammen, darunter auch Mitglieder von Marzoukis CPR. Naceur Yahya, ein Vertreter Arbeiterpartei PTT äußerte die Bedenken der Bewegung:

There is a grave threat to the people’s identity – a threat to the people’s democracy. We need to form a united front in order to beat them.”

Die Mehrheit der Menschen in Tunesien sieht in dem neuen Präsidenten nachwievor vor allem den Menschenrechtler Marzouki. Entsprechend groß sind die Hoffnungen, die an ihn geknüpft werden. Den Tränen nahe verabschiedete sich Marzouki am Dienstag mit einem obligatorischen Peace-Zeichen, im Hinterkopf wohl auch die Erfahrungen seiner Reisen nach Indien und Südafrika, wo er sich mit dem Konzept des gewaltfreien Widerstands und den gesellschaftlichen Veränderungen im ehemaligen Apartheidstaat beschäftigt hat.

Die hohe Beteiligung von über 90 Prozent bei den Parlamentswahlen von Ende Oktober (hier vor einem Wahllokal in Tunis) kann nicht über den enormen Erwartungsdruck der Menschen in Tunesien hinwegtäuschen. Präsident Marzouki verkörpert jedoch für viele die Hoffnung auf Demokratie nach der Revolution - Copyright: Freedom House

Die hohe Beteiligung von über 90 Prozent bei den Parlamentswahlen Ende Oktober (hier vor einem Wahllokal in Tunis) verdeutlicht den enormen Erwartungsdruck der Menschen in Tunesien. Für viele verkörpert der neue Präsident Marzouki die Hoffnung auf Demokratie nach der Revolution - Copyright: Freedom House

Nach den Tagen der blutigen Straßenkämpfe zu Beginn des Jahres sehen vielleicht genau deshalb viele im Menschenrechtler Marzouki den richtigen Mann, der Ordnung in die politischen Wirren des post-revolutionären Tunesien bringen könnte. Dazu passt eine seiner ersten Ansprachen an die Öffentlichkeit, in der Marzouki einen “politischen und sozialen Waffenstillstand” fordert. Marzouki wendete sich in einem landesweit ausgestrahlten TV-Interview mit einer Bitte an die tunesische Bevölkerung. Der Präsident forderte eine sechs monatige Aussetzung der immer wieder aufkeimenden Proteste, andernfalls drohe Tunesien der “kollektive Selbstmord”. Im Gegenzug bot Marzouki an, sein Amt freiwillig aufzugeben, sollte innerhalb des nächsten halben Jahres keine Verbesserung der Situation erkennbar sein.

 

Mehr zu diesem Thema:

eufrika.org: Tunesien – Start der verfassunggebenden Versammlung

eufrika.org: Serie “Die Parteienlandschaft Tunesiens” – Die Bewegung Ennahda

eufrika.org: Bewährungsprobe für die Revolution – Tunesien im Wahlkampf

Tunisia Live: Marzouki’s Election in Tunisia provokes Support, Opposition, and Skepticism

Al Arabiya: Marzouki – Tunisia’s opposition stalwart turned president

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Marius Münstermann is based in Berlin where he works as a freelance journalist. Marius serves as editor-in-chief at eufrika.org.

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