Zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart

Thursday 25th, December 2014 / 15:24 Written by

 

Zur Diskursiven Debatte europäischer Kolonialherrschaft am Beispiel Deutschlands

Von Fanny Lüskow

Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license: Mozzan at cs.Wikipedia

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1 Einleitung

[…] Ich will dir sagen, Jugend Afrikas: das Drama Afrikas rührt nicht daher, dass die afrikanische Seele für Logik oder Vernunft undurchdringbar sei. Denn der afrikanische Mensch ist genauso logisch und vernünftig wie der europäische Mensch. […] Das Drama Afrikas ist, dass der afrikanische Mensch nicht hinreichend in die Geschichte eingetreten ist. […] Die Realität Afrikas ist die eines großen Kontinents, der alles hat für den Erfolg und der nicht erfolgreich ist, weil er es nicht schafft, sich von seinen Mythen zu befreien. […] die Renaissance Afrikas hängt zu einem großen Teil ab von der Renaissance Europas und der Renaissance der Welt.“ (Rede von Nikolas Sarkozy, 27. Juli 2007, Universität Dakar, Senegal, deutsche Übersetzung; in: Fecke 2007: 4)

Die hier anklingende Stellung Europas bei der „Entwicklung Afrikas“ ist unter europäischen Politikern kein Einzelfall und gemeinhin geteilter Konsens. Dass hier jedoch hegemoniale Ideologien mitschwingen und rassistische Äußerungen verwandt wurden, ist vielen nicht bewusst.

Das koloniale Erbe Europas und Deutschlands ist dem Großteil der Bevölkerung unbekannt. Bis heute gilt Rassismus als ein Problem, das sich auf Rechtsextremismus und Gewalt beschränkt und lediglich Einzelne am Rande der Gesellschaft trifft. Dass Rassismus dennoch eine strukturelle Ebene besitzt und sich entgegen des allgemeinen Tenors auf die gesamte Gesellschaft bezieht, wird häufig nicht in den Blick genommen. Weiß zu sein spielt in den meisten Selbstkonzepten von Weißen keine Rolle und wird nicht thematisiert – Schwarz zu sein hingegen schon. In einer weißen Mehrheitsgesellschaft aufzuwachsen heißt für gewöhnlich auch mit entsprechenden ideologischen Vorstellungen von der Welt und Stereotypen sozialisiert zu werden. Dass diese zum Großteil historisch gewachsen sind, wird sowohl in der Schulbildung als auch der Erziehung weitestgehend unterschlagen und deren Legitimation nicht in Frage gestellt.

Ist Rassismus tatsächlich ein Massenphänomen? Was hat er mit der europäischen Vergangenheit zu tun? Welche Vorstellungen und Annahmen liegen diesem zugrunde? Und kann dies überhaupt noch auf die Gegenwart übertragen werden?

Diesen Fragen nachzugehen hat sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht, welche einen groben Überblick über die diskursive Debatte europäischer Kolonialherrschaft bietet. So wird zunächst in wichtige und die Debatte bestimmende Begriffe wie Kolonialismus und Postkolonialismus eingeführt und anhand des deutschen Kolonialreiches ein Beispiel für europäisch-hegemoniale Expansion gegeben. Anschließend wird aufgezeigt, wie koloniales Handeln gerechtfertigt wurde und in welchen Bereichen koloniale Muster auch noch heute wirken. Abschließend werden ein kurzes Fazit und ein Ausblick auf sich abzeichnende Tendenzen und mögliche Handlungsspielräume gegeben.

2 Begriffsannäherung

Mit den Unabhängigkeitsbewegungen vieler afrikanischer Staaten in den frühen 1960er Jahren und dem formalen Ende der Kolonialzeit wird häufig auch der Ausgang der kolonialen Ära datiert. Doch dass eine Vielzahl kolonialer Beziehungsmuster und Effekte bis heute nachwirken, ist erst in den letzten 30 Jahren, zunächst im anglophonen, später im deutschsprachigen Raum, in das Bewusstsein getreten und entsprechend aufgearbeitet und publiziert worden. Dass Herrschafts-, Ausbeutungs- und Machtverhältnisse integraler Bestandteil der heutigen Welt sind und Gegenwart nicht ohne ihre historische Dimension gedacht und verstanden werden kann, macht Kolonialismus zu einem Thema höchster Aktualität und weckte zunehmend das Interesse von Wissenschaftlern. Da die Bedingungen, Strukturen und Reaktionen in den kolonisierten Gesellschaften aber so unterschiedlich waren, kann eher von einzelnen Kolonialismen als von dem Kolonialismus gesprochen werden. Der häufig in diesem Zusammenhang fallende, breiter angelegte Begriff des Imperialismus, „der auch Formen der informellen Steuerung ohne Ansprüche auf Gebietsherrschaft mit einschließt“ (Conrad 2012: 3) muss hiervon aber unterschieden werden.

2.1 Kolonialismus

Kolonialismus, im herkömmlichen Sinne verstanden als der „Erwerb und die Nutzung von Kolonien“ (Wahrig 2006; in: Diedrich/Strohschein 2011: 114), ist in der zeitgenössischen Debatte der Gegenwart ein weit differenzierteres und komplexeres System von Bedeutungen und Implikationen als die oben genannte Definition zunächst den Eindruck macht. Über seinen genauen Bedeutungsgehalt herrscht noch weitgehende Uneinigkeit unter den Autoren, sodass es nicht überrascht, dass der Historiker Jürgen Osterhammel diesen als „Phänomen kolossaler Uneindeutigkeit“ beschrieb (Osterhammel 2006: 8).

Zurückgehend auf die lateinische Wurzel colonia meint der Begriff zunächst nichts anderes als besiedeln oder bebauen und unterstellt damit, annektierte Kolonien seien unbewohnt und leer, bevor die Kolonialmacht Zivilisation und Kultur in das Land brächte. Derartige Betrachtungen übersehen jedoch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die mit einer solchen Inbesitznahme einhergehen und verschleiern die weitreichenden Folgen und Facetten kolonialer Expansion sowie die physische, militärische, epistemologische und ideologische Gewalt, auf welcher dieser fußt (vgl. Diedrich/Strohschein 2011).

Einen weitaus umfassenderen Definitionsversuch unternahm Jürgen Osterhammel in dem Jahr 2001, nach welchem Kolonialismus als „eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden“ (Osterhammel 2001: 21) verstanden werden kann. „Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen“ (ebd.). Die dieser Begriffsbestimmung inhärente Logik der Machtlegitimation und Unterwerfung naturgemäß minderwertiger Gruppen geht über die gängigen Wörterbucheinträge hinaus und soll als Grundlage der vorliegenden Darstellung begriffen werden.

Kolonisierung kann demnach nicht auf die territoriale Expansion sowie politische und militärische Herrschaft reduziert, sondern muss vielmehr auch auf der kulturellen Ebene und der der Wissensproduktion untersucht werden. Neben der physischen Beherrschung von Raum nennt Valentine Y. Mudimbe auch die Besetzung und Formung des Bewusstseins der Kolonisierten und Kolonisierenden (die so genannte Kolonisierung des Geistes), die Unterordnung der (ehemaligen) Kolonien und die Einordnung in europäische Wissenssysteme, die Abkopplung der kolonisierten Gesellschaften von ihrer eigenen Geschichte und Geschichtsschreibung sowie die gewaltsame Integration in das westliche ökonomische System als charakteristisch und strukturgebend für Kolonialismus (vgl. Mudimbe 1988; in: glokal e.V. 2013). Dieses Zusammenspiel von physischer Herrschaft und Gewalt einerseits sowie hegemonialen europäischen Diskursen, die auf das Bewusstsein aller Beteiligten wirken, andererseits, liefert einen angemesseneren Erklärungsansatz dieses Phänomens und ist Ausgangspunkt der diskursiven Ebene von Kolonialismus, dessen Untersuchung sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht hat.

Die 500-jährige Beherrschung des Globalen Südens[1] durch europäische Gesellschaften nahm bereits im 15. Jahrhundert mit der Eroberung und Kolonisierung, in vielen Geschichtsbüchern euphemistisch betitelten „Entdeckung“ der „Neuen Welt“ seinen Anfang, forcierte die bereits in der Antike vorhandenen kolonialen Phantasien und setzte den Nährboden für die „kapitalistische[…] Durchdringung der Welt“ (Conrad/Rhanderia 2002: 24; Eckert 2006: 6). Die bald darauf einsetzenden regelmäßigen Handelsbeziehungen brachten die Amerikas, Afrika, Asien und Europa erstmals in einen direkten Kontakt und führten zu Vernetzungen der Weltregionen, die sich kontinuierlich vertieften. Somit können sie als Vorläufer der Globalisierung, verstanden als der Aufbau, die Verdichtung und die zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung, angesehen werden (vgl. Eckert 2006).

Mit der Aufklärung, insbesondere Denkern wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant, bekamen diese eine neue Dynamik. Durch sie gewann das universalistische Denken, europäische Maßstäbe an den Rest der Welt anlegen zu können, an Einfluss. Auf diese Weise wurde eine Hierarchisierung verschiedener Weltregionen ermöglicht, ein Eingreifen in außereuropäische Gesellschaftsformen legitimiert und bereits viele Jahre vor der Etablierung des Deutschen Reiches als offizielle Kolonialmacht der Grundstein für rassistische Ideologien gelegt.

Auch die Industrielle Revolution trug entscheidend dazu bei, indem sie die Weltteile wirtschaftlich enger zusammenbrachte und den Welthandel explosionsartig ansteigen ließ. „Ein globales Wettrennen nach Rohstoffen und Absatzmärkten setzte ein“ (ebd.: 6) und ermöglichte es Europa weiter zu wachsen und seine exponierte Lage auszubauen. Diese zweifache Zäsur führte zu dem im späten 19. Jahrhundert vorherrschenden und in der Berliner Konferenz 1884/85 gipfelnden Konkurrenzkampf um die Bildung neuer Kolonien in Afrika, dem so genannten (Hoch-)Imperialismus (vgl. Conrad 2012; Diedrich/Strohschein 2011; Eckert 2006).

Diese Hochphase der kolonialen Weltordnung reicht in ihren Auswirkungen noch bis in die Gegenwart hinein und ist im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft besonders präsent. Spätestens seit dieser Phase europäischer Okkupation sind koloniale Verhältnisse zentraler Bestandteil internationaler Ordnung und die verschiedenen Formen grenzüberschreitenden Austauschs kolonial geprägt. Daher sind Machtasymmetrien stets vor dem Hintergrund kolonialer Ausbeutungsverhältnisse zu sehen und Kolonialismus Bedingung sowie zentrales Element bei der Herausbildung heutiger ökonomischer, politischer sowie kultureller Ordnung der Welt (vgl. Conrad 2012).

2.2  Postkolonialismus

Diesen Kontinuitäten und Parallelen zum Kolonialismus in der Gegenwart gehen Postkoloniale Studien (auch postcolonial studies) nach. Die verhältnismäßig junge Forschungsströmung, deren Anfänge häufig auf Homi K. Bhabha, Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak[2] zurückgeführt wird, findet ihre ideellen Wegbereiter bereits in den Positionen Mahatma Gandhis, Frantz Fanons oder Aimé Césaires. Sich später aus den Commonwealth Literary Studies entwickelnd, ist sie in den 1980er Jahren insbesondere in den angloamerikanischen Kultur- und Literatur-, später auch Geschichts- und Sozialwissenschaften entstanden (vgl. Castro-Varela/Dhawan 2005; Conrad 2012).

Postkoloniale Perspektiven heben die mit dem Kolonialismus verbundenen diskursiven Räume, sozialen Hierarchien, polit-ökonomischen Verhältnisse und historischen Entwicklungen hervor und versuchen daraus neue Geschichtsbilder abzuleiten sowie emanzipatorische Alternativen zur herkömmlichen eurozentrischen Geschichtsschreibung aufzuzeigen (vgl. Ha 2011).

Dabei bezieht sich postkolonial nicht lediglich deskriptiv auf die Situation nach der formalen Dekolonisierung, sondern darüber hinaus auch kritisch-analytisch im Sinne von spät- oder neokolonial auf die koloniale Dominanz in Wissensproduktion, Repräsentation und Identitätsbildung (vgl. Conrad 2012; glokal e.V. 2013; Ha 2011) und zielt somit auf die „Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses“ (Conrad 2012: 7).

Anstatt die entscheidenden Faktoren in wirtschaftlicher Ausbeutung oder internationaler Konkurrenz zu suchen, stellen postkoloniale Diskurse kulturelle Dispositionen in den Mittelpunkt, welche als Grundlage von Expansionsphantasmen dienten und ohne die koloniale Herrschaft nicht denkbar gewesen wäre (vgl. ebd.).

Daher fordern Vertreter der postcolonial studies dazu auf, Kolonien und Kolonialmächte in einem einheitlichen analytischen Feld zu betrachten, welches die Wechselwirkungen, Interaktionen und Interdependenzen zwischen Globalem Süden und Norden berücksichtigt und zu einem Verständnis der gemeinsam konstituierten modernen Welt, gar einer „gemeinsamen Geschichte“ (Eckert 2006: 2) verhilft.

Angesichts der großen Spannbreite postkolonialer Diskurse und der immensen Diversität behandelter Thematiken, uneinheitlichen Methodologien, ausdifferenzierten theoretischen Ausgangspunkte, beteiligten akademischen Fachrichtungen und involvierten Akteur_innen hat sich postkoloniale Kritik immer mehr zu einer Art Sammelbegriff und übergeordneten Kategorie entwickelt, die nahezu alle kritischen Ansätze miteinander verbindet und daher zu einem transdisziplinären Diskursfeld avanciert ist. Diese Heterogenität ermöglicht eine Vielzahl dissonanter Stimmen und entzieht sich dem modernen Zwang zur Einheitlichkeit und Normierung (vgl. Ha 2011).

Die unterschiedlichen Arbeits- und Wirkungsfelder der postcolonial studies werden durch eine übergreifende politische Perspektive verbunden, die für die Aufarbeitung zurückliegender und gegenwärtiger Kolonialpraktiken eintritt, sich für die Loslösung von Hegemonie in der Wissensproduktion einsetzt und sich daher entgegen dem in der Wissenschaft allgemein geltenden Postulat der Werturteilsfreiheit als parteiliche und eingreifende Wissenschaftspraxis versteht (vgl. ebd.).

Postkoloniale Diskurse wollen bestehende Dominanzverhältnisse sichtbar machen und den Nicht-Repräsentierten sowie Marginalisierten eine Stimme verleihen. Sie streben einen Perspektivwandel auf individueller und institutioneller Ebene an und verstehen sich als Ausgangspunkt politischer Intervention. Dieser Paradigmenwechsel ist im Bereich der deutschen Wissenschaft und Kultur erst relativ spät im Laufe der 1990er Jahre und nur sehr zögerlich erfolgt.

3 Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches

Die deutsche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit des eigenen Landes und dem damit verinnerlichten Verständnis von Entwicklung, Fortschritt und eigener Überlegenheit steht erst am Anfang: Das öffentliche Wissen über die deutsche Kolonialherrschaft und die damit verbundenen genozidalen Verbrechen an Menschen ist sehr gering. In der Schulbildung wird dem Thema wenig bis kein Raum gegeben. Die öffentlichkeitswirksame Erinnerungskultur ist vergleichsweise unmerklich und der politische Einsatz und das Engagement dies zu beheben klein.

Hierfür ist ein komplexes Zusammenwirken an Ursachen verantwortlich: Neben der nationalstaatlichen Fixierung der deutschen Neuzeithistorie[3] ist auch die „Hinwendung zur Alltagsgeschichte, welche das Nahe über das Ferne stellt[…]“ (Eckert/Wirz 2002: 375) stark mit der Unterrepräsentation der kolonialen Geschichte in der deutschsprachigen Publizistik und Historiographie verbunden. Auch die nur kurze Dauer und wirtschaftliche Marginalität deutscher Kolonialherrschaft ist ein viel verwandtes Argument, um der Problematik aus dem Weg zu gehen und leistet, ebenso wie die Dominanz und Zentralität des Holocaust und des deutschen Sonderwegs, der Ignorier-Mentalität Vorschub. Nicht zuletzt gab es im Nachkriegsdeutschland nur wenig koloniale Minderheiten, die eine Aufarbeitung ihrer Geschichte einklagen und auf eine angemessene Entschädigungspolitik bestehen hätten können (vgl. Eckert/Wirz 2002).

Trotz der viel beschworenen Randständigkeit deutscher Kolonialbesitzungen waren Deutsche seit jeher an der Erforschung, dem Aufbau, Ausbau und der Durchführung europäischer Expansion sowie dem transatlantischen Handel mit Sklaven beteiligt und entwickelten auf diese Weise Rassentheorien, imperialistische Phantasien und koloniales Denken (vgl. Diedrich/Strohschein 2011). Zwischen 1884 und 1899 erwarb das Deutsche Reich unter Reichskanzler Otto von Bismarck Kolonien in Afrika[4], Nordostchina und im Pazifik. Das deutsche Kolonialreich war

 […] territorial das drittgrößte, nach seiner Bevölkerungszahl das fünftgrößte europäische Kolonialreich. Die heutigen Staaten Namibia, Tansania, Togo, Kamerun, Nigeria, Ghana, Ruanda, Burundi, Papua Neuguinea, die Republik der Marshall-Inseln, die Republik Nauru, die nördlichen Marianeninseln, die Föderierten Staaten von Mikronesien und West-Samoa standen ganz oder teilweise unter deutscher Kolonialherrschaft. (ebd.: 115f.).

Bis 1884 hatte sich der Reichskanzler allerdings noch skeptisch im Erwerb von Überseegebieten gezeigt und aufgrund nicht abschätzbarer außenpolitischer und finanzieller Wagnisse vehement eine deutsche Involvierung ausgeschlossen. Mit dem zunehmenden öffentlichen Druck, dem raschen Bevölkerungswachstum und steigenden sozialen Spannungen im Land geriet seine ursprüngliche Meinung allerdings ins Wanken (vgl. Conrad 2008; Zimmerer 2012).

Kolonien, damals euphemistisch als „Schutzgebiete“ bezeichnet, sollten als Ventil für innere Konflikte und Gegensätze sowie die drohende Überbevölkerung im Kaiserreich dienen, Absatzmärkte für die industrielle Überproduktion bieten und gewinnträchtige Ressourcen bereitstellen. Zudem erschienen sie als eine Art unbeschriebenes Blatt, dessen unzivilisierte und rückständige Einwohner_innen kultiviert werden müssten. Auch Kontextfaktoren wie die „Zuspitzung der weltwirtschaftlichen Konkurrenz, die Herausbildung konkurrierender politischer und ökonomischer Blöcke, die Diskussion über Weltreiche und die globale Integration von Güter- und Arbeitsmärkten“ (Eckert 2008: 26) sowie rassistische Ideologien und Vorstellungen von Evolution spielten bei der Übernahme der Überseegebiete eine Rolle (vgl. Conrad 2008; Zimmerer 2012).

Politische Fürsprecher fanden die Bestrebungen vor allem bei den Freikonservativen und den Nationalliberalen, wohingegen das katholische Zentrum eine ambivalente Auffassung diesbezüglich vertrat und die Linksliberalen sowie die SPD scharfe Kritik an den Akquisitionsplänen des Reichskanzlers übten. Da sich die Kritik allerdings lediglich gegen die Methoden der Kolonisierung und nicht gegen das Projekt als solches richtete und keine Alternative zum Kolonialismus gefordert wurde, blieb diese letztlich wirkungslos. Stattdessen trug man die Idee der Kolonisierung durch die Propagierung eines „christlichen Kolonialismus“ (Conrad 2008: 27) in weite Bevölkerungsschichten hinein und fand auf diese Weise den erwünschten Rückhalt.

Die Kolonien wurden auf unterschiedliche Weise verwaltet. Während Kiautschou dem Marineministerium unterstand, wurden die anderen von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, seit 1907 von dem Reichskolonialamt verwaltet. Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika und die Besitzungen im Pazifik waren als Beherrschungskolonien angelegt, wohingegen es sich bei Deutsch-Südwestafrika um eine Siedlungskolonie[5] handelte.

In den Kolonien entstand auf Grundlage der Rassenideologie eine regelrechte Privilegiengesellschaft:

Deutsche sollten die Oberschicht bilden, Afrikanerinnen und Afrikaner in eine homogene Schwarze Arbeiterschicht umgeformt werden. […] Jegliche ‚Vermischung‘ der ‚Rassen‘ sollte unterbunden werden. Existierende Ehen zwischen Deutschen und Afrikanerinnen wurden […] nachträglich annulliert, jegliche sexuelle Beziehungen stigmatisiert und der Begriff des ‚Eingeborenen‘ endgültig biologisch definiert: […] ‚Solange sich noch die Abstammung von einem Zugehörigen eines Naturvolkes nachweisen lässt, ist der Abkömmling infolge seines Blutes ein Eingeborener.‘ (Zimmerer 2012: 14).

Insbesondere weiße Frauen standen der Mischehe kritisch gegenüber und setzten sich für die Unterbindung des Kontakts zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen ein, um die „Reinheit der Rasse“ zu bewahren. Diese Rassentheorien wurden zum konstituierenden Bestimmungsmerkmal und Rechtfertigungsargument von kolonialer Herrschaft.

Durch den späten deutschen Einstieg in die imperiale Expansionspolitik glaubte man Versäumtes nachholen zu müssen und ließ keine Zeit für Anpassungen der einheimischen Bevölkerung an die neuen Wirtschafts- und Lebensbedingungen sowie für Anpassungen kolonialer Herrschaftspraktiken vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen (vgl. ebd.). So ist nicht verwunderlich, dass die mit den Kolonialbesitzungen verbundenen Hoffnungen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Mit Ausnahme von Togo blieben alle Kolonien aufgrund starken Widerstands seitens der Einwohner_innen sowie hoher Kosten für Eisenbahnbau, Militäreinsätze und Verwaltung für das Deutsche Reich unrentabel und daher reine Prestigeobjekte. Durch Zwangsarbeit auf Plantagen, rücksichtslose Landpolitik seitens der Regierung, gewaltsame Landenteignungen, militärische Expeditionen sowie massiver Ausbeutung von Rohstoffen kam es während dieser Zeit mehrfach zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wovon der Maji-Maji-Widerstand im ehemaligen Deutsch-Ostafrika (1905 bis 1907) oder der verlustreiche Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im einstigen Deutsch-Südwestafrika (1904 bis 1907) nur die populärsten Beispiele darstellen (vgl. Conrad 2008; Diedrich/Strohschein 2011; Zimmerer 2012).

Der erste Weltkrieg bzw. der Versailler Vertrag von 1919 markierte das offizielle Ende des ersten deutschen Kolonialreiches. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten flammten die Bestrebungen und Pläne der Zurückgewinnung von Kolonien ein weiteres Mal auf, die schließlich mit dem Einmarsch in die Sowjetunion und der Expansion gen Osten besiegelt wurden. Nicht wenige Historiker und Vertreter der Postkolonialen Theorie sehen einen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie Kolonialkriegen und Holocaust (vgl. Eckert/Wirz 2002; Zimmerer 2012). Auch wenn dieses zweite deutsche Kolonialreich nicht von langer Dauer war, lassen sich die kolonialen Phantasien und Rassismen dennoch auch knapp 70 Jahre später in vielen deutschen Köpfen wiederfinden.

4 Legitimation von Kolonisation

Rassistische Ideologien und Diskriminierungen wie sie heutzutage häufig mit dem deutschen Genozid an Millionen von Juden und Jüdinnen sowie hunderttausenden Roma und Sinti in Verbindung gebracht werden, sind wie oben bereits angedeutet nicht in einem Vakuum entstanden und eine Neuerfindung der Nationalsozialisten. Sie entstammen bereits jener Zeit des europäischen Kolonialprojektes, als die Unterwerfung fremder Völker sowie gewaltsame Aneignung von Ressourcen und Land mit Rassentheorien gerechtfertigt wurden. Diese teilweise bis in die Antike zurückgehenden und über das Christentum sowie die Aufklärung forcierten Theorien stellten eine Art wissenschaftlichen Beweis für die Notwendigkeit und Pflicht europäisch-hegemonialen Handelns dar.

Einzelne äußere Körpermerkmale, später Blut und Gene, galten seitdem als konstante und vererbbare Differenzkriterien und manifestierten sich in einer dichotomen Hierarchie, an deren Spitze weiße Menschen standen. Fortan wurde „Weißsein als naturgegebene Herrschaftskategorie“ (Diedrich/Strohschein 2011: 117) und als Gipfel der vermeintlichen menschlichen Evolution verstanden. Auf diese Weise konnte die „angebliche[…] religiöse[…], kulturelle[…] und biologische[…] Überlegenheit“ (ebd.) im Sinne des Sozialdarwinismus für die Legitimation der europäischen Kolonialherrschaft instrumentalisiert werden, die insbesondere in Zeiten, in denen über Freiheit, Gleichheit sowie Bürger- und Menschenrechte diskutiert wurde, von Nöten war (vgl. Arndt 2011; Diedrich/Strohschein 2011; glokal e.V. 2012).

Die dieser Rechtfertigung zugrunde liegende Logik wird als so genanntes „Othering“[6] (glokal e.V. 2012, 2013) bezeichnet, welches von einer klaren Trennung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Anderen“ sowie einer hierarchischen Klassifizierung von Menschen ausgeht. Durch Bewertung von und in Abgrenzung zu einem defizitär und unterlegen konstruierten „Anderen“ konnte sich auf diese Weise ein europäisches Selbst, gar eine europäische Identität der weißen, christlichen Überlegenheit herausbilden (vgl. glokal e.V. 2013). Hier wird das konstruktivistische Wirklichkeits- und Selbstverständnis der Postkolonialen Studien deutlich, „können wir selbst uns doch nur verstehen in Beziehung zu diesen Anderen.“ (ebd.: 13).

Durch die als überlegen wahrgenommene Position des Globalen Nordens glaubte man das Recht zu haben, Regionen außerhalb Europas mit den eigenen Begriffen benennen, einordnen, bewerten und auf diese Weise unterwerfen zu können. So wurden und werden Gesellschaften des Globalen Südens häufig als unterentwickelt, barbarisch, ungebildet, emotional, traditionell und passiv homogenisiert und naturalisiert, während Europäer als entwickelt, rational, gebildet, zivilisiert, modern und aktiv galten und gelten. Damit verknüpft sind ganze Wissenssysteme und Assoziationsketten: So werden schwarze Menschen nicht nur als rückständig stigmatisiert, sondern gleichzeitig auch beispielsweise mit Armut, Hunger, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Krankheit, Tanz und Trommeln in Verbindung gebracht. Auf diese Weise wirken Exotisierung, Infantilisierung, Animalisierung und Romantisierung ebenso wie Homogenisierung, Naturalisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung zusammen und erzeugen ein komplexes Ursachengefüge konstruierter Entitäten (vgl. Arndt 2011; glokal e.V. 2012, 2013).

Hinter diesen Mechanismen steht ein modernisierungstheoretisches Verständnis von Entwicklung, nach welchem Fortschritt einen linear verlaufenden Prozess darstellt. In dieser Lesart werden außereuropäische Entwicklungen auf ein Nachholen von in Europa durchlaufenen Stadien reduziert und Europa somit zum erstrebenswerten Ideal ernannt (vgl. glokal e.V. 2013). Dass Europa aus den vielschichtigen Interdependenzverhältnissen, Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen mit anderen Weltregionen erst zu dem werden konnte, was es heute ist und nach wie vor nur im Lichte dieser betrachtet werden kann, findet in diesen Ansätzen keine Erwähnung. Stattdessen konstruierte sich Europa als per se modern und kulturell komplex, was sich schließlich mit der Institutionalisierung westlicher Wissenssysteme und Bildungsapparate (vgl. Kum’a Ndumbe 2002) sowie der Aufoktroyierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems manifestierte.

Später wandelte sich das Verständnis von einem biologistischen zu einem kulturell begründeten Rassismus. Nicht mehr das Blut oder die Gene, sondern die kulturellen Eigenarten der kolonisierten Gesellschaften wurden als minderwertig und rückständig erklärt. Unterentwicklung wurde nun nicht mehr als biologisch festgeschrieben und unwandelbar, sondern vielmehr als reversibel verstanden. Da davon ausgegangen wurde, dass die Afrikaner zu primitiv seien, um sich selbst regieren zu können, aber prinzipiell zu einer ähnlichen Entwicklung wie die Europäer fähig seien und ebenso Anspruch auf die genuin als westlich angesehenen Werte der Freiheit, Gleichheit und Demokratie hätten, wurde das koloniale Projekt mit einer Zivilisierungsmission gerechtfertigt. So versuchten die Europäer im Zeichen der Christianisierung, Kultivierung, Erziehung und Disziplinierung ihre „Tugenden“ auf die als unglücklich und reformbedürftig deklarierten Gesellschaften des Globalen Südens zu übertragen und eine neue politische, ökonomische und moralische Ordnung einzuführen. Dabei halfen insbesondere das starke Sendungsbewusstsein und die abolitionistische Rhetorik der Europäer, mit deren Hilfe dem eher skeptischen Teil der Öffentlichkeit das koloniale Eingreifen als humanitärer Feldzug gegen Sklaverei und Menschenhandel erklärt wurde (Diedrich/Strohschein 2011; Eckert 2012, 2006, 2002; glokal e.V. 2013; Zimmerer 2012).

Die Vorstellung von Afrika als eines von Sklaverei durchzogenen Kontinents, der von seinen eigenen Tyrannen unterdrückt und vom Pfad zu Zivilisation, Christentum und Handel ferngehalten wurde, war seit den 1860er Jahren zentral für die Missionspropaganda und die Antisklavereibewegungen sowie eine wesentliche Komponente des für das europäische Lesepublikum zugänglichen Wissens über Afrika. (Eckert 2012: 17f.)

Die Unterscheidung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten sowie Weiß und Schwarz und der damit einhergehende Rassismus und die ungebrochenen Reformierungsbestrebungen sind in der heutigen Gesellschaft und Politik zwar offiziell nicht mehr vorhanden und sozial verurteilt, dennoch aber ständige Begleiter in alltäglichem Sprachgebrauch, Afrikadiskursen und entwicklungspolitischen Entwürfen.

5 Koloniale Kontinuitäten

Dass auch nach dem formalen Ende der Kolonialherrschaft koloniale Mechanismen greifen, zeigt ein Blick in die Debatte um neokoloniale Tendenzen, die hier an einigen ausgewählten Beispielen verdeutlicht werden sollen. Der auf den ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah zurückgehende Begriff des Neokolonialismus beschreibt den Zustand von Staaten, die trotz formaler Souveränität und Unabhängigkeit wirtschaftlich wie politisch von außen gesteuert werden. Nach wie vor existieren Staaten, die ihr Recht auf Selbstbestimmung fordern und andere Länder als Besatzungsmacht empfinden. Sie dienen als Spielball in Stellvertreterkriegen der „Supermächte“, stehen in ökonomischer Abhängigkeit zu den Ländern des Globalen Nordens und sind auch in Bereichen wie Kultur und Medien an diese gebunden. Auch im Land Grabbing[7] ebenso wie in der deutschen bzw. europäischen Migrations- und Arbeitsmarktpolitik lassen sich neokoloniale Elemente erkennen (vgl. Ziai 2012).

Obwohl die koloniale Arbeitsteilung durch die seit den 1970er Jahren erfolgte Industrialisierung in Süd-, Ost- und Südostasien etwas aufgelockert worden ist, bestehen für den Großteil der Länder des Globalen Südens nach wie vor kolonialzeitlich strukturierte ökonomische Abhängigkeiten. Immer noch profitieren viele deutsche Unternehmen von einer „kolonialen Konstellation“ (Eckert/Wirz 2002: 377) in der Weltwirtschaft, welche Afrika fast ausschließlich als ausgebeuteten Rohstofflieferanten ohne nennenswerte verarbeitende Industrie dastehen lässt. Demnach weist die voranschreitende Globalisierung des 20. und 21. Jahrhunderts deutliche Parallelen zur Epoche des europäischen Imperialismus auf. Neokoloniale Kritik wendet sich hauptsächlich an Vertreter des IWF und der Weltbank, die mit allen Mitteln weltweiten Freihandel durchzusetzen versuchen und damit in der Regel insbesondere kapitalstarke und wettbewerbsfähige Konzerne des Globalen Nordens bei der Gewinnung neuer Absatzmärkte im Globalen Süden unterstützen (vgl. Ziai 2012). Da dies jedoch nur nebensächlicher Bestandteil dieser Ausarbeitung ist, soll sich an dieser Stelle nicht ausführlicher mit den Stimmrechten der Direktionsgremien beider Organe beschäftigt und darüber hinaus die Rolle europäischer Agrarsubventionen beleuchtet werden.

Durch die vergleichsweise kurze Kolonialherrschaft stellte sich die Bundesrepublik jahrelang als unbelasteter Partner in der euphemistisch bezeichneten „Entwicklungszusammenarbeit“ dar und suggerierte eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Tatsächlich aber dient sie, ebenso wie militärische Interventionen, der politischen Einflussnahme, eigenen wirtschaftlichen Interessen, sicherheitspolitischen Strategien und somit als machtstabilisierendes Instrumentarium. Kontinuierlich wird in ihr koloniales Gedankengut fortgesetzt, da sich viele der damals grundlegenden Ideologien und Praktiken bis heute nicht verändert haben. So ist der Glaube an die Richtigkeit und Vorbildlichkeit des eigenen Entwicklungsweges ebenso ungebrochen wie die Annahme, dass es ohne Fremdeinwirkung und westliche Hilfe nicht zu Entwicklung und Modernisierung kommen kann. Die implizierte Ideologie, Europa als Maßstab für Zivilisation und Fortschritt anzunehmen, missachtet afrikanische Kulturleistungen und schätzt lokales Wissen gering. Entwicklungszusammenarbeit dieser Couleur führt nicht zu „Entwicklung“, sondern vielmehr zu Ausbeutung und verschärft das bereits bestehende Gefälle zwischen Arm und Reich. Auch das in den letzten Jahren immer stärker in den Blick genommene Konzept der good governance[8] blieb von Neokolonialismus-Vorwürfen nicht verschont (vgl. Eckert/Wirz 2002; Ziai 2012).

Zwischen Kolonial- und Entwicklungsdiskurs hat sich bisweilen nicht allzu viel verändert: „Entwicklung“ wird nach wie vor mit Indikatoren wie Bruttosozialprodukt, Lebenserwartung oder Schulbildung gemessen, während zum Beispiel nicht-monetäre soziale Netzwerke, Umgang mit Natur, Gastfreundschaft oder Zufriedenheit der Bürger_innen unberücksichtigt bleiben. Auch die Vorstellung eines einheitlichen menschlichen Entwicklungswegs, auf welchem die Länder des Globalen Südens dem Globalen Norden hinterher hinken, ist geblieben. Westliche Annahmen und Werte werden als universell erstrebenswert konstruiert; die Definitionsmacht geht immer noch von weißen Menschen aus (vgl. Ziai 2004).

Eine erste Analyse entwicklungspolitischer Bildungsmaterialien in Deutschland hat gezeigt, dass auch in diesen „hegemoniale eurozentrische Geschichtsschreibung […] sowie hegemoniale Konzepte von Entwicklung, Kultur und dem Verständnis von Rassismus reproduziert werden.“ (glokal e.V. 2013: 48). Die untersuchten Quellen und Methoden seien in den etablierten Entwicklungsdiskurs eingebettet und würden wenig Anlass dazu geben, dominante Macht- und Herrschaftsverhältnisse kritisch zu hinterfragen und sich aus dem bestehenden Analyserahmen herauszubewegen. Auslassungen, Entnennungen, Entpolitisierung und der Dualismus zwischen „Hilfsbedürftigen“ und „Helfer_innen“ führten zur „Stabilisierung von Ungleichheitsverhältnissen auf sozialer, politischer und ökonomischer Ebene“ (ebd.: 49).

6 Einordnung, Fazit und Ausblick

Die europäische Moderne, welche auch die deutsche inkludiert, ist durch vielgestaltige Beziehungen zum Globalen Süden geprägt und hat seine heutige Daseinsform erst in Abgrenzung zu und durch hegemoniales Eingreifen in Länder außerhalb Europas erlangt. Wechselseitige Austauschbeziehungen, die seit teilweise mehr als 500 Jahren bestehen, beeinflussten die betroffenen Gesellschaften nachhaltig und in einem bislang völlig unterschätzten Ausmaß. Die Arbeit hat gezeigt, dass europäische Geschichte unweigerlich verbunden ist mit Kolonialismus und kolonialem Denken und sich europäische Identität stets nur mit der Einbeziehung dessen konstituieren lässt. Koloniale Verhältnisse sind sowohl in die kolonisierten als auch die kolonisierenden Gesellschaften strukturell eingeschrieben, bestehen bis heute und werden in Bildern und Sprache tagtäglich reproduziert und somit in ihren Konsequenzen real.

Die diskursive Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialherrschaft und damit implizierten imperialen Repräsentationen ist in Deutschland noch sehr jung und hat erst wenig in der praktischen Arbeit Anwendung gefunden. Weißsein als „Ort struktureller Vorteile und Privilegien“ (Wachendorfer 2001: 87) wird in der breiten Öffentlichkeit kaum thematisiert.

Dennoch lassen die Entwicklungen der letzten Jahre Raum für ein wenig Hoffnung: Im akademischen Betrieb haben die Themen Kolonialismus und Rassismus bereits Einzug gehalten, wenngleich es auch noch in der praktischen Umsetzung und den institutionellen Manifestationen mangelt. Zudem scheint langsam auch die Bereitschaft für und die Sensibilität in der Zivilgesellschaft zu wachsen, was die aufkommende Debatte über Racial Profiling und die Initiierung der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ zeigt. Auch Vereine und Nichtregierungsorganisationen beziehen mehr und mehr machtkritische Ansätze in ihre Überlegungen sowie Projekte ein und bieten Workshops, Weiterbildungsseminare und Veranstaltungen mit Schwerpunkt auf Rassismus und „Kritischem Weißsein“ an[9]. Darüber hinaus hat sich seit den 1990er Jahren auch die aus den USA stammende „Kritische Weißseinsforschung“ an deutschen Universitäten institutionell etabliert.

Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist ein lebenslanger Prozess. Um das eigene nationalstaatliche Korsett und eurozentrische Denken zu überwinden, sind ständige Selbstreflexion und eine Konfrontation mit den eigenen Rassismen unerlässliche Schritte. Bestehende Machtverhältnisse können nur dann hinterfragt und Vorurteile nur dann abgelegt werden, wenn ein kritischer Blick auf die eigene privilegierte Rolle entwickelt, internalisierte Überlegenheit verlernt und Verantwortung übernommen wird.

Dies gilt auch für die Politik: Hier muss der bislang zu eng gefasste Rassismusbegriff erweitert und die strukturelle Ebene von dem jahrzehntelang marginalisierten Rassismus gezielt angegangen werden. Dazu gehören unter anderem die kritische Analyse von institutionellen und politischen Rahmenbedingungen entwicklungspolitischer Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit und die Überprüfung der Zusammenstellung und Stimmenverteilung in Organisationen, Institutionen und Entscheidungsgremien.

Nur auf diesem Weg wird es gelingen, zu einer offeneren und toleranteren Gesellschaft zu werden, die frei von unbewussten Rassismen ist.

7 Literatur- und Quellenverzeichnis

Arndt, Susan (2011): Rassismus. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, S. 37-43.

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/goodgovernance/index.html

Castro-Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript, S. 22-27.

Conrad, Sebastian (2012): Kolonialismus und Postkolonialismus; in: Bpb (Hrsg.) (2012): APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte. Kolonialismus. 62. Jahrgang. 44-45/2012. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament.

Conrad, Sebastian (2008): Deutsche Kolonialgeschichte. München: Beck, S. 22-38.

Dietrich, Anette/Strohschein, Juliane (2011): Kolonialismus. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, S. 114-120.

Eckert, Andreas (2012): Rechtfertigung und Legitimation von Kolonialismus; in: Bpb (Hrsg.) (2012): APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte. Kolonialismus. 62. Jahrgang. 44-45/2012. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament.

Eckert, Andreas (2006): Kolonialismus. Frankfurt am Main: Fischer, S. 2-10.

Eckert, Andreas/Wirz, Albert (2002): Wir nicht, die anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hrsg.) (2002): Jenseits des Eurozentrismus, Frankfurt, S.372-392

Fecke, Andreas (2007): Deutsche Übersetzung der Rede „An die Jugend Afrikas“ von Sarkozy: http://data3.blog.de/media/145/2416145_7a6ef3c078_d.pdf

Franzki, Hannah/Aikins Joshua Kwesi (2010): Postkoloniale Studien und kritische Sozialwissenschaft. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 158, Jg. 40, Nr. 1, S. 9-28.

Glokal e.V.(Hrsg.) (2013): Bildung für nachhaltige Ungleichheit? Eine postkoloniale Analyse von Materialien der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland. Berlin.

Glokal e.V. (Hrsg.) (2012): Mit kolonialen Grüßen. Berichte und Erzählungen von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet. 1. Aufl. Berlin.

Ha, Kien Nghi (2011): Postkolonialismus/Postkoloniale Kritik. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.) (2011): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast-Verlag, S. 177-184.

Kum’a Ndumbe (2002): Entwicklungstheorien über den Süden ohne den Süden; in: Rossade, Werner / Sauer, Birgit / Schirmer, Dietmar (Hrsg.): Politik und Bedeutung. Studien zu den kulturellen Grundlagen politischen Handelns und politischer Institutionen, Wiesbaden, S. 271-279.

Osterhammel, Jürgen (2006): Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. München: Beck.

Osterhammel, Jürgen (2001): Kolonialismus. München: Beck, S. 7-28.

Wachendorfer, Ursula (2001): Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität. In: Arndt, Susan (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast, S. 87-101.

Ziai, Aram (2012): Neokoloniale Weltordnung?; in: Bpb (Hrsg.) (2012): APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte. Kolonialismus. 62. Jahrgang. 44-45/2012. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament.

Ziai, Aram (2004): Imperiale Repräsentationen. Vom kolonialen zum Entwicklungsdiskurs; in: iz3w 276, S. 15-18.

Zimmerer, Jürgen (2012): Geschichte des europäischen und deutschen Kolonialismus; in: Bpb (Hrsg.) (2012): APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte. Kolonialismus. 62. Jahrgang. 44-45/2012. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament.

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Diese Arbeit erschien bereits an der Freien Universität zu Berlin im Rahmen des Seminars “Europa als Prozess, Projekt und Problem” im März 2013.
12 (2)Fanny Lüskow hat “Soziologie – Europäische Gesellschaften” an der Freien Universität zu Berlin studiert und schreibt derzeit ihre Masterarbeit zu dem Thema “Wie viele Menschen trägt die Erde – Der Überbevölkerungsdiskurs in deutschen Onlinemedien”. Ihr Schwerpunkte und Interessen liegen insbesondere im Bereich Rassismus, postkoloniale Theorie, Diskriminierung und Migration.

[1] Unter der Bezeichnung „Globaler Süden“ wird eine im globalen System benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Position verstanden, wohingegen „Globaler Norden“ eine mit Vorteilen ausgestattete, privilegierte Position darstellt (vgl. glokal e.V. 2012).

[2] Zur weiterführenden Lektüre vgl. Bhabha, Homi K. [1984] (2007): Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses; in: Derselbe: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.; Said, Edward [1978] (1981): Orientalismus. Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein.; Spivak, Gayatri Chakravorty [1988] (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia und Kant.

[3] Zur weiterführenden Lektüre des methodologischen Nationalismus vgl. Beck, Ulrich/Grande, Edward (2004): Kosmopolitisches Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

[4] Da der Großteil der deutschen Besitzungen auf dem afrikanischen Kontinent lokalisiert war, findet häufig eine Gleichsetzung von deutschem Kolonialismus und Afrika statt. Daher wird auch in dieser Arbeit weitestgehend auf Afrika Bezug genommen.

[5] Zur Klassifikation von Kolonien vgl. Conrad 2008; Osterhammel 2001; Zimmerer 2012.

[6] Der Begriff des „Othering“ (engl. other = andersartig) wurde von Gayatri Chakravorty Spivak geprägt und dient als Erklärungsmechanismus für den Prozess, durch den der imperiale Diskurs die „Anderen“ herstellte (vgl. Spivak 1985).

[7] Mit dem Begriff „Land Grabbing“ wird die Aneignung von landwirtschaftlichen Nutzflächen großen Ausmaßes durch finanzstarke ausländische Investoren beschrieben (vgl. Ziai 2012).

[8] Der Term „Good Governance“ wird häufig mit „gute Regierungsführung“, „gute Staatsführung“ oder auch „verantwortungsvolle Regierungsführung“ übersetzt (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).

[9] Beispiele hierfür sind Veranstaltungen des Zentrums für Demokratie Treptow-Köpenick oder der ESG Berlin.

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