Bewährungsprobe für die Revolution: Tunesien im Wahlkampf

Monday 03rd, October 2011 / 19:58 Written by

 Seit Diktator Ben Ali im Januar gestürzt wurde, haben sich in Tunesien über 80 neue Parteien registrieren lassen. Am 23. Oktober finden nun die ersten freien Wahlen seit 23 Jahren statt. Wie schon zu Beginn des Arabischen Frühlings, der seinen Lauf in Tunesien nahm, probt das Land den Ernstfall für eine ganze Region: Nach der Revolution echte Freiheit?

Die internationale Gemeinschaft stilisiert politischen Pluralismus zur Doktrin für demokratischen Wandel und setzt auf die Leuchtkraft der Wahlen in Tunesien. Derweil haben vor allem die sogenannten islamischen Parteien gegen das diffamierende Vermächtnis des alten Regimes anzukämpfen. Gleichzeitig sind viele Wähler noch völlig uninformiert, doch ein Online-Dienst nach dem Vorbild des deutschen “Wahl-O-Mat” soll helfen.

Nachdem die zunächst für Juli angesetzten Wahlen verschoben worden waren, entscheiden rund sieben Millionen registrierte Wähler am 23. Oktober über die Besetzung der neuen 217 Sitze umfassenden nationalen verfassungsgebenden Versammlung, die die Übergangsregierung wiederum interimsweise ersetzen und den Weg für wirklich freie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bereiten soll. Laut Reuters ist derzeit jedoch noch etwa die Hälfte der registrierten Wähler völlig unentschlossen, was nicht zuletzt dem Mangel an Informationen geschuldet ist.

Die Programme der meisten Parteien unterscheiden sich lediglich in Nuancen. Die Tatsache, dass viele ranghohe Parteimitglieder erst mit dem Sturz Ben Alis aus dem Exil in ihre Heimat zurückgekehrt sind, macht eine Identifikation für viele Menschen in Tunesien schwierig, zumal in einem Land, in dem eine Kultur politischer Debatte über mehr als zwei Jahrzehnte ausgeschlossen und angesichts des omnipräsenten Clans Ben Alis perspektivlos schien.

Doch nicht nur die tunesische Bevölkerung will von politischen Programmen überzeugt werden. Vor allem islamisch orientierte Parteien sind es, die von der internationalen Gemeinschaft ein Recht auf gleichberechtigte Anerkennung in der neuen pluralistischen Parteienlandschaft Tunesiens einfordern. So betont Mohamed Ghannouchi, der eine führende Rolle in der Protestbewegung zu Beginn des Jahres gespielt hatte:

We are a party that can find a balance between modernity and Islam.”

Ben Alis “harte Hand” im Umgang mit der stets propagierten Gefahr islamistischen Terrors war kennzeichnend für seinen repressiven Herrschaftsstil. Anti-Terror-Gesetzgebungen setzte der Diktator häufig gegen unliebsame Oppositionelle ein. Der internationalen Gemeinschaft und ihren großzügigen Gönnern wusste Ben Ali seine erzwungene Form der staatlichen Stabilität als alternativloses “Bollwerk gegen den islamistischen Terror” zu verkaufen.

 

TuniVote lichtet Wählern einen Weg in die tunesische Parteien-Landschaft

Hilfe im Vorfeld soll TuniVote bringen. Der an die deutsche Version Wahl-O-Mat angelehnte interaktive Wahlinformationsdienst soll den Menschen in Tunesien die Möglichkeit geben, sich im Internet mit Hilfe von 56 Fragen mit den Parteien vertraut zu machen, deren Wahlprogramme transparent miteinander zu vergleichen und mit den persönlichen Standpunkten der Wähler abzugleichen. Entwickelt wurde TuniVote, das seit letztem Donnerstag zugänglich ist, von Silmi Khanfir.

www.tunivote.net

www.tunivote.net

Die programmatische Trennlinie verläuft vorrangig zwischen islamischen Parteien, die einen stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik wollen, auf der einen und säkularen Strömungen auf der anderen Seite. Die besten Aussichten auf eine regierungsfähige Mehrheit sehen Beobachter derzeit am ehesten für Ḥizb al‐Nahḍah (Renaissance Party), die einen gesellschaftlichen Umbruch auf Grundlage sogenannter islamischer Prinzipien anstrebt. Seit 1989 – zunächst unter dem Namen Islamic Tendency Movement gegründet – war sie als eine von wenigen Oppositionsparteien bis zu dessen Auflösung am 14. Januar im Parlament vertreten und blieb auch nach dem Sturz Ben Alis im Übergangsrat.

Einer ihrer bekanntesten Köpfe ist Rachid al-Ghannouchi, Gründungsmitglied, programmatischer Denker und Autor mehrerer staatstheoretischer Bücher. Ghannouchi ist nach gut 20 Jahren im Ausland einer der vielen Politiker, deren Engagement zwar in Tunesien wurzelt, die aber die längste Zeit ihrer Karriere im Exil verbracht haben: Flucht der Familie vor politischer Verfolgung nach Syrien, Studium in Frankreich, zwischenzeitige Rückkehr in die Heimat, wo ihm seine anhaltende Regierungskritik eine Verurteilung zum Tode einbrachte; erneute Flucht und weitere Stationen im arabischen Raum folgten, bevor der “echte islamische Demokrat” Ghannouchi Anfang diesen Jahres dem Ruf der neuen politischen Freiheit im Tunesien nach Ben Ali entgegeneiferte. Ghannouchi steht für einen Mordernisierungsversuch seiner Partei, die ihr neues Image auch durch die Wahl ihrer Kandidatinnen profilieren will. Ghannouchi drängt mit seinem reformatorischen Kurs vor allem auf die Vereinbarkeit der vielseitigen islamischen Strömungen, die auch in der tunesischen Gesellschaft zu finden sind und nicht selten das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen den religiös geprägten Parteien darstellen:

We are six million Tunisian Muslims. We are all the Islamic Tendency. No one can accept that certain individuals claim the monopoly of Islam and pretend to act under its name or its sacred values to hide their political goals.”

 

Prüfstein für eine ganze Region

Die Wahlen in Tunesien gelten als Prüfstein für eine ganze Region, ein Scheitern könnte die Errungenschaften der Revolution zu Nicht zu machen. Nicht zuletzt deshalb signalisieren immer mehr Länder ihre Unterstützung für die anstehenden Wahlen: Die Schweiz wird im Rahmen eines Hilfsprogramms der Vereinten Nationen 12.000 Wahlurnen und weitere Materialien zur Verfügung stellen, die Europäische Union entsendet 150 Wahlbeobachter.

Währenddessen streiten die USA als einstiger Gönner und einer von Ben Alis wichtigsten Unterstützern im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus noch über den zukünftigen Kurs ihrer Diplomatie mit dem neuen Tunesien. In einer Debatte um mögliche Unterstützung aus Washington argumentierten einige Kongressabgeordnete, der mit dem Arabischen Frühling einhergegangene Wandel im politischen wie gesellschaftlichen Klima sei ein wichtiger Schlag gegen die Aktivitäten Al Quaidas, den es zu unterstützen gelte.

Die derzeit euphorische Situation in Tunesien veranlasst nicht wenige Beobachter zu der Hoffnung, dass die tunesischen Wahlen einen weitreichenden Einfluss auf die bevorstehenden Urnengänge in der direkten Nachbarschaft haben könnten, vor allem mit positivem Nachhall im nachwievor angespannten Ägypten. Tunesiens derzeitiger Außenminister, Mouldi Kefi, äußert sich ähnlich zuversichtlich:

If the Tunisian experience takes root and succeeds, I’m sure in Egypt for instance, like the revolution started in Tunisia, democracy also will take root in Egypt and also in Libya. Because you know the wind of freedom knows no borders so hopefully the Tunisian experience – we hope – it will be a success story and it will spread to our neighbours as well.”

 

Internetseite der Partei Ḥizb al‐Nahḍah auf Arabisch.



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Marius Münstermann is based in Berlin where he works as a freelance journalist. Marius serves as editor-in-chief at eufrika.org.

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